(M)eine Winterreise von Francesco Tristano

„Eine andere Art Klavierabend“ verhieß das Programmheft zu „(M)eine Winterreise“ von Francesco Tristano. Der Mozart Saal der Alten Oper (als wäre er nicht ohnehin unwirtlich genug) hallte wider von der kalt-blau-grauen Beleuchtung des Bühnenhintergrunds und die Klimaanlage ließ frösteln. Aha: es wird ganzheitlich! Und aleatorisch: Der Pianist entschied spontan über die Abfolge der angekündigten „Nummern“, vornehmlich eigne Kompositionen, dazwischen Debussy-Préludes, Ravels Gaspard de la nuit, Takemitsus For Away und die Klavierfassungen von vier Schubertliedern. Seine eigenen Kompositionen wirkten meist wie improvisiert. Oft balladesk, oft an populäre Songs erinnernd, in denen auf eine melodramatisch vorangestellte seelische Selbstentblößung wiederholungsreich ein liedhaftes Bekenntnis folgt. Zahlreiche Binnenstimmen-Orgelpunkte erinnerten an immerhin an Schubert.

Das ohne spannungszehrende Beifallslöcher und ohne Pause rund 75 Minuten füllende Programm bekam am Ende viel Applaus – vielleicht gerade, weil der 1981 in Luxemburg geborene, an der New Yorker Juilliard School, später auch anderen Konservatorien von Paris bis Riga Ausgebildete darin meist an einen Barpianisten erinnerte.

Im von Michael Stegemann moderierten Nachgespräch „An der Bar“ gab er freimütig zu, dass Schubert ihm vor diesem Auftrags-Beitrag zum Musikfest über ein paar nette Melodien hinaus nichts bedeutet habe. Das Abarbeiten des Auftrags habe daran nichts geändert. Tristanos Äußerung im Programmheft, „Schubert hat den Pop Song (radio edit) erfunden“, sei entgegengehalten, dass Kürze auch Destillat bedeuten kann und Eingängigkeit nicht notwendigerweise Plattheit.

Aber: Tradition bedarf der Frechheit jüngerer Menschen, um nicht zu verknöchern, um sich selbst immer wieder zu hinterfragen, um Wesentliches statt Äußerliches zu erhalten. Das Beste an diesem Abend war jedoch der dem Konzert vorangestellte Vortrag von Michael Stegemann über die politische Situation zur Schubert-Zeit, die sich von der gegenwärtig erstarkenden Neuen Spießigkeit und einer global möglichen elektronischen Überwachung nur graduell unterschieden hat.

DORIS KÖSTERKE