Paul Giger im „Höchster Schlossplatz 1“

Paul Giger im „Höchster Schlossplatz 1“
(11.03.2016)

 

Von Doris Kösterke

 

„In diesem wunderbaren Gewölbe, bei diesem wunderbaren Menschen“ machte Paul Giger etwas, was er noch nie getan hat: er erweiterte sein Konzert mit Worten.

Vor allem machte er Musik. Allein mit seiner Geige, oder mit dem von ihm entwickelten „violino d’amore“, bei dem fünf Saiten über das Griffbrett laufen, unter dem noch sechs Resonanzsaiten schwingen. Aber dazwischen würdigte er den „Höchster Schlossplatz 1“, las Gedichte des St. Galler Schriftstellers Joseph Kopf (1929-1979) und erzählte von seiner Suche nach dem, was ihn heute ausmacht:
Mit acht Jahren hatte er Geigenunterricht bekommen und mit 14 damit aufgehört, um nach eigener Art zu fiddeln, zu rocken, zu trommeln und zu improvisieren. Seine wichtigsten Erkenntnisse sammelte er als Straßenmusiker in Asien: „Als Straßenmusiker“, erzählte Giger, „muss man unter schlechtesten Bedingungen die Leute fesseln“. Mit dem Fesseln begann Giger an diesem Abend jeweils so leise, dass man ihm innerlich ein Stück entgegenging. Und schon war man seinem Sog erlegen: Aus einem scheinbar zufälligen, geräuschnahen Nebel hörte man eine Tanz-ähnliche Rhythmik oder eine ätherische Melodie sich herausschälen, deren Entwicklung man dermaßen neugierig verfolgte, dass man Zeit und Raum vergaß.

Ein wesentlicher Reiz von Gigers Tonsprache liegt in seiner Vorliebe für Flageolets, für jene pastellfarbenen Geigentöne, die nicht durch festes Greifen, sondern durch loses Auflegen der Finger an den physikalischen Schwingungsknoten der Saite gebildet werden und deren Intonation oft wesentlich vom „temperierten“ westlichen System abweicht. Diese Vorliebe mag durch Gigers frühen Kontakt mit indischer Musik begründet sein. Giger betonte, dass sich die Zahlenverhältnisse der Obertöne überall in der Natur wiederfänden, auch im Menschen, bis zum Rhythmus des Atmens. In der Tat fühlte man sich beim Hören seiner Musik, als würde man wie ein Instrument gestimmt.

Giger konzertierte bereits zum vierten Mal in diesem 1591 erbauten Haus, das der Fotokünstler Jürgen Wiesner nach den gleichen Prinzipien saniert hat, nach denen er seine Bilder macht: indem er Gefundenes behutsam ins Licht rückt. Musiker wie Giger kommen um der Atmosphäre und der Akustik willen. Wie stark der Raum mitspielt, zeigte Giger in seinem Stück „Karma Shadub“ (tibetisch für „tanzender Stern“), als er spielend durch den Raum und die Treppe hinauf ins obere Gewölbe schritt.

Nicht zuletzt beeindruckte Giger durch die Präzision, mit der er die Quellen seiner Inspiration untersuchte, sei dies ein rund tausend Jahre alter Tropus aus dem Kloster St. Gallen, oder der verborgene Rhythmus in dem Weg, den Pilger in der Kathedrale zu Chartres nehmen, oder die Frage, wie sich das Volk der Tibeter unter chinesischer Besatzung fühlt. Um letzteres zu zeigen, spielte er Bachs „Gavotte en rondeau“ zunächst so mitreißend, dass man sich mehr davon gewünscht hätte. Doch er brach ab, verstimmte die zweithöchste Saite seiner Geige um einen Ton nach unten und spielte das Stück noch einmal. Das Resultat war erschütternd. Etwa so, als erlebte man ein Deutschland voller Menschen und Straßen, aber ohne Kultur.

Fazıl Say überzeugt als Pianist

Das zweite Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns ist nicht eben ein Bekenntniswerk. Aber aufgeführt von Fazıl Say bekam es diese Züge: die Solo-Einleitung klang unter seinen Händen in der Mainzer Rheingoldhalle einmal nicht wie romantisierter Bach, sondern kraftvoll und klar, mit unverstelltem Blick für die Substanz.

Sein Zusammenspiel mit dem SWR Symphonieorchester war aufmerksam und achtungsvoll, seine Virtuosität frappierend, seine Bescheidenheit beeindruckend. Er hatte sich das Stück in einem Maße „zu Eigen gemacht“, dass es fast egal schien, was er spielte, weil man aus dem Wissen um sein aufrechtes politisches Engagement vor allem als Meta-Botschaft empfand: ich habe etwas zu sagen und sage es. Wer anderer Meinung ist, darf es bleiben. Seine erste Zugabe, ein effektvoll orientalisch eingefärbtes Stück Unterhaltungsmusik, war seine eigene Komposition „Black Earth“. Die zweite eine Improvisation über Mozarts „Rondo alla turca“, geistreich-witzig, mit vielen Jazz-Elementen als Bekenntnis zum musikalischen Weltbürgertum.

Vorbereitet war das Event seines Auftritts von einer passablen Interpretation von Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“, wobei man den Eindruck hatte, dass manche musikalische Geste sich (noch) fantasievoller und sprühender hätte vermitteln können, wenn der überaus sympathische, auswendig dirigierende Däne Michael Schønwandt sich ab und an mehr Zeit genommen und darüber hinaus das Orchester mehr dazu genötigt hätte, auf ihn zu achten.

Hauptwerk des Abends war die Fünfte Sinfonie op. 50 von Schønwandts Landsmann Carl Nielsen (1865-1931), eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und laut dem (nicht-dänischen!) Musikologen Deryck Cooke die größte Symphonie des 20. Jahrhunderts überhaupt: Schockierend das Einfallen der neben dem Orchester positionierten Militärtrommel. Dramatisch, wie die Hörner sich dagegen durchsetzen und wie das Orchester es letztlich schafft, sich über die Barbarei hinwegzusetzen. Heikel, wie es, im zweiten Teil des Werkes mit neu entstandenen Zwängen und Konflikten kämpft, um schließlich über eine vornehmlich von den Bläsern vermittelte melodische Kraft einen neuen inneren Frieden zu finden.

DORIS KÖSTERKE
08.04.2017

Rebecca Saunders

„Alles, nur nicht das!”, habe er beim ersten Blick in die Noten von Rebecca Saunders‘ ›Fury II‹ gedacht: „So viel Vor-Information zu jedem einzelnen Klang!“. Im Werkstattkonzert ›Happy New Ears‹ des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper Frankfurt spielte Kontrabassist Paul Cannon seinen Part dann so natürlich, als hätte er ihn selbst improvisiert. Eine Riesenleistung des Interpreten, der wiederum die Komponistin lobte: sie kenne sich mit den einzelnen Instrumenten und ihren erweiterten Klang- und Spielmöglichkeiten aus, wie kein anderer.

Genau darauf wollte Enno Poppe hinaus, der als Moderator mit brillantem Einfühlungsvermögen in die Gedankengänge seiner Komponistenkollegin und als enorm präziser, exzellent vorbereiteter Dirigent zum überragenden Erfolg des Abend beitrug: Rebecca Saunders gehört zu den gefragtesten und faszinierendsten ihrer Zunft, weil sie ihr Handwerk versteht. Und (im Gegensatz zu Handwerkern, die den Alltag zur Hölle machen können) minutiös genau wahrnimmt und entsprechend genau plant. Der überwältigende Klangreiz ihrer Musik, die soghafte Intensität, die faszinierenden Binnenstrukturen, etwa im an diesem Abend erklungenen ›dichroic seventeen‹ (1998), sind nicht zuletzt die Früchte überragenden Könnens, das Rebecca Saunders, die im Dezember dieses Jahres fünfzig wird, unter anderem bei Wolfgang Rihm erworben hat.

Hinzu kommen ein vielleicht typisch englischer Mut, die eigene Individualität zu kultivieren, sowie eine große Portion visionärer Intuition. Und Allgemeinbildung. Und natürlich Interpreten wie die des Ensemble Modern, die sich diese sehr spezielle Sprache aufs Sensibelste zu eigen machen. Im von Samuel Beckett inspirierten Stirrings Still I (2006) müssen Altflöte (Dietmar Wiesner), Oboe (Christian Hommel), und Klarinette (Jean Bossier) in sich jeweils zweistimmig spielen. Das geht. Aber nur sehr leise und mit äußerster Konzentration. Und schafft eine entsprechende Atmosphäre bei den Zuhörenden. Im abschließenden ›Fury II‹ wollte Saunders, wie sie es im Gespräch mit Enno Poppe nannte, einem kontrabassistischen Energieausbruch Resonanz in anderen Instrumenten verschaffen. Man staunte über die Genauigkeit, mit der sie die geräuschhaften Begleiterscheinungen der mächtigen körperlichen Präsenz des Kontrabasses (mit noch weiter heruntergestimmter fünfter Saite!) analysiert, für Bassklarinette, Cello, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug imitierbar aufbereitet und damit noch komponiert hatte.

Danke für diesen wertvollen Abend!

DORIS KÖSTERKE
1.3.2017

Walter Smetak – re-inventing?

Re-inventing Smetak – Vier Uraufführungen durch das Ensemble Modern im Mozart Saal

Begeisterung schlug den Musikern des Ensemble Modern und Komponisten entgegen, wo immer sie in Brasilien nach Walter Smetak (1913–1984) fragten. Das internationale Projekt „Re-inventing Smetak“ ermöglichte es vier Komponisten, aus einer Beschäftigung mit Smetak heraus eigene Kompositionen zu schaffen, die im Mozart Saal durch das Ensemble Modern ihre Uraufführung erlebten. Ursprünglich hatte der Musikwissenschaftler Max Nyfeller auf den vielseitigen Vorkämpfer einer Brasilianischen Gegenkultur aufmerksam gemacht, der das Bewusstsein von Menschen erweitern wollte.

Das Einführungsgespräch mit Max Nyffeler fand unter einer Hüttendach-ähnlichen Bambuskonstruktion statt. Der Komponist Arthur Kampela spielte damit in „…tak-tak…tak…“ an den Gemeinschaftsgedanken Smetaks (Spitzname: „Tak-tak“) an: die Konstruktion verband verschiedene (unorthodoxe) Instrumente miteinander, so dass, wenn eins bedient wurde, auch andere mitschwangen. Leider ging dieser Effekt in einer allgemeinen Reizüberflutung der Geräuschkomposition unter.

Smetak war als von Anthroposophie und Theosophie inspirierter Cellist, Komponist und Orchestermusiker 1937 aus der Schweiz nach Brasilien emigriert. Ein kurzer Film von José Walter Lima zeigte einen ruhigen Menschen mit großer innerer Sicherheit. Er baute einfache Instrumente, die gleichzeitig ausdrucksvolle Skulpturen sind, oft mit Kalebassen. Ihre mikrotonalen Stimmungen verzichten auf tradierte musikalische Ordnungen. Sie intendieren eine voraussetzungslose und gemeinschaftsstiftende, meist improvisierte Musik. Damit wollte Smetak einen Zustand der Eubiose erarbeiten, in dem Menschen ausgeglichen und gut miteinander umgehen.

Dieser Gedanke schien die Komponisten dieses Abends wenig interessiert zu haben. Immerhin parallelisierte Lisa Lim kreisförmige Strukturen in Smetaks Instrumenten mit den gleichberechtigten sozialen Strukturen in brasilianischen Kreistänzen. Ihre Komposition „Ronda – The Spinning World“ (2016) ist ein gefälliges Stück. „Instrumentarium“ von Daniel Moreira gewann einen eigenen Reiz, indem es an ein selbsterschaffenes Video über Smetaks Instrumente gekoppelt war. Volvere (2017) von Paulo Rios Filho war ein lebhaftes Spektakel voller instrumentaler und stimmlicher Gefühlsausbrüche inmitten allgemeiner alegria. Doch obwohl Dirigent Vimbayi Kaziboni den Aufführungen noch eine eigene Faszination hinzufügte, konnten die vier Kompositionen nicht wirklich begeistern. Vielleicht, weil es Konstrukte waren und allein schon dadurch an die von Smetak intendierte Freiheit und Offenheit nicht heranreichen konnten, die sich eher in der Improvisation einstellt?

 

DORIS KÖSTERKE
25.2.2017

Helmut Lachenmann

Helmut Lachenmann im Mittelpunkt des Auftakt-Festival der Alten Oper 2005
(16.-17.09.2005)

 

 

Mit Helmut Lachenmann steht eine der beeindruckendsten Komponistenpersönlichkeiten der Gegenwart im Mittelpunkt des diesjährigen Auftakt-Festivals der Alten Oper. Nahezu gleichrangig neben seinem musikalischen Schaffen steht die verbale Eloquenz, mit der er seine künstlerische Tätigkeit hinterfragt und begleitet.

Die Einführungsveranstaltung in den Räumen des Auftakt-Hauptsponsors DekaBank begann Lachenmann, indem er einige Kinderstücke auf dem Klavier spielte, darunter seine „Hänschen klein“- Persiflage. Sie durchmisst den Tonumfang des Klaviers aus piepsigen Höhen in finstere Tiefen und schließt, so herausfordernd wie ermunternd, mit einer offenen Frage. Im Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich beschrieb Lachenmann seine tiefe Erschütterung über die Missbrauchbarkeit traditioneller Musik zur Nazi-Zeit als Zündfunken seines musikalischen Denkens. Er wolle mit seiner Kunst „nicht hörig, sondern hellhörig“ machen. „Kultur, einst Medium der Erhellung, ist Medium der Verdrängung geworden“ stellt er fest und wendet sich entschieden gegen die gängige Praxis, die „sich die Werke der Tradition als warme Bettdecke über die Ohren ziehen will“. Der Mensch sei, wie Büchner seinen Woyzeck sagen lässt, „ein Abgrund“, und schon Kinder gerieten an mehr Abgründe, „als ihren Erziehern bekannt und erwünscht ist“. Mit seiner Kunst wolle unter anderem lehren, den Blick auf diese Abgründe auszuhalten, sagte Lachenmann.

 

Lachenmann erreicht dies, indem er traditionelle Topoi meidet, oder sie zumindest in einen ihnen fremden Zusammenhang stellt. So besteht sein jüngstes Werk, „Concertini“, das im ersten der ihm gewidmeten Konzerte seine deutsche Erstaufführung erlebte, zum großen Teil aus Geräuschen. Keinen schmerzhaften, sondern solche, die zum Hineinhören einladen. Im mittleren Teil des Mozart-Saales in der Alten Oper hatte man einige Stuhlreihen herausgenommen, um die Musiker, keineswegs nach Instrumentengattungen sortiert, weiträumig zu verteilen. Die insgesamt vier Oboen etwa erklangen aus einander entgegengesetzten Ecken des Raumes. So konnten die Klänge rund um das Publikum herum und über es hinweg miteinander in Beziehungen treten und es gleichsam mit einbeziehen. – Als recht frühes Werk Lachenmanns hatte Michael M. Kasper „Pression“ für einen Cellisten aufgeführt, ein Werk, in dem das Cello mehr gestreichelt als gespielt wird, ein jenseits herkömmlicher Klangwelten ausgesprochen liebevolles Werk. Außerdem stellte das Konzert die humorträchtigen „Sechs Bagatellen“ von Lachenmanns Weggenossen Nicolaus A. Huber wie die „Canti per 13“ von Luigi Nono als dem gemeinsamen Lehrmeister beider Komponisten vor – jeweils in packender Interpretation durch das Ensemble Modern unter entsprechender Leitung von Brad Lubman und höchst differenzierter Klangregie durch Volker Bernhart. – Konstruktive Beiträge des begleitenden Symposiums im Hindemith-Foyer waren Ulrich Moschs Vergleich der Gesten in Lachenmanns Musik mit denen alltäglicher Vorkommnisse und die von Jörn-Peter Hiekel apostrophierte These vom intellektuell Nicht-Verstehbaren als Hinweis auf das Primat der sinnlichen Wahrnehmung. Ein abschließendes Gespräch zwischen Hans-Klaus Jungheinrich, Helmut Lachenmann und dem querdenkenden ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum gipfelte in Baums Aufforderung, dem gegenwärtigen politischen Erosionsprozess einen neuen engagierten Kulturbegriff entgegenzusetzen. Einen solchen Kulturbegriff könnte man eigentlich von Lachenmann abschreiben: Siehe oben.

ROTOR #5 im Frankfurter Städel

Sechseinhalb Stunden Programm mit zeitgenössischer Kunst und Musik, Klangkunst und DJ-Set

Drei Sorten Publikum vereinte ROTOR #5 im Städel, zwei davon in den unterirdischen Gartenhallen: An zeitgenössischer Kunst Interessierte ließen sich von in rot gekleideten jungen Damen etwa auf Hermann Glöckners Rechteck-Faltungen, auf Wolfgang Tillmanns Phantasieanregendes paper drop oder auf Adolf Luthers Virtuelles Bild aus Hohlspiegeln aufmerksam machen. Dazwischen erlebte man einen Klassiker der Neuen Musik, Kontakte von Karlheinz Stockhausen. Darin kommunizieren ein Pianist und ein Schlagzeuger mit einem Tonband, das, 1958-60 im Studio des WDR produziert, zu den Pionierwerken der elektronischen Musik zählt. Stockhausen hat dafür verschiedene Schlagtechniken unter die akustische Lupe genommen. Also beispielsweise bei einem Schlag mit einem weichen Schlegel auf einen Gong analysiert, wie der Klang einsetzt und welche Obertöne sich darin stapeln. Diesen Vorgang hat er mit elektronischen Mitteln nachgebildet. Und natürlich auch fantasievoll weiterentwickelt. Die mitunter menschlich-emotional wirkenden Äußerungen lässt er über vier Lautsprecher um das Publikum herum kreisen. Kompositionsprofessor Orm Finnendahl illustrierte: „Zu dieser Zeit gab es einen Impulsgenerator, der Knackse machte, einen Sinuston-Generator und Filter. Sonst nichts. Unter diesen Umständen war das Stück für Stockhausen zwei Jahre harte Arbeit.“ Zur harten Arbeit schöpferischen Sich-Reibens an engen technischen Grenzen gesellte sich die harte Arbeit der Aufführung. An 18 Lautstärkereglern begleitete Florian Zwißler die virtuosen Aktionen von Benjamin Kobler (der neben dem Klavier noch einige Perkussionsinstrumente zu bedienen hatte) und dem Perkussionisten Dirk Rothbrust und in der durch das Publikum stark veränderten Akustik. In der Verständigung mit dem Klangregisseur kämpfte Dirk Rothbrust mit einem Wackelkontakt im Kopfhörer. Und gerade dieser Überdosis Adrenalin schien der Aufführung eine besondere Intensität zu verdanken, während in höher gelegenen Gefilden des Städels der Lärm von Menschenmassen wuchs, die die DJ-Party erwarteten.

Im Kontrast zu dem regen Umherspringen der Stockhausen-Interpreten stand Wolfgang Voigt äußerlich wie eingefroren vor seinem Laptop und zelebrierte seine gut einstündige Komposition Rückverzauberung. In der Akustik der Gartenhallen konnte man sie auch mit den Fußsohlen „hören“. Mit wechselnden vagen Andeutungen im Schatten dumpfer Rhythmen fühlte man sich an eine surrealistische Zugfahrt durch verschlierende Klanglandschaften aus entfernten Orchester- und Opernstimmen und quasselnden Menschenmassen erinnert. Oder an eine schnelle Fahrt mit dem Flugzeug über die Rollbahn, in der man vergeblich darauf wartet, dass der Magen Richtung Steißbein drückt. Die Schluss-Stretta schließlich wirkte wie eine Tunnelfahrt in einem Hochgeschwindigkeitszug mit kaputten Fenstern.

Die Klangaktionen von DJ Ellen Allien schienen im Prinzip ähnlich gebaut. Nur, dass die Klanglandschaften lieblicher waren und die junge Blonde sich anmutig in ihnen bewegte. Doch nach vier Stunden Zuhören fiel es zunehmend schwer, die Geräuschkulisse des Publikums zu ignorieren, das die künstlerische Leistung primär als Stimulans zu lautstarker Selbstdarstellung zu konsumieren schien.

DORIS KÖSTERKE
28.10.2016

CONNECT – Das Publikum als Künstler

Ensemble Modern und sein Publikum spielt Werke von Huang Ruo und Christian Mason im Frankfurt LAB

Das Publikum als Künstler? Auch musikalisch Ungebildete konnten in Kompositionen von Huang Ruo (*1976) und Christian Mason (*1984) mitwirken und sich in einem Workshop darauf vorbereiten. Den Uraufführungen mit der London Sinfonietta folgten die Deutschen Erstaufführungen im Frankfurt Lab mit dem Ensemble Modern. In ihrem europaweiten, wissenschaftlich begleiteten Projekt will die Art Mentor Foundation Lucerne Laien die zeitgenössische Musik schmackhaft machen.

The Sonic Great Wall nannte Huang Ruo sein klingendes Theater für 13 Musiker und Zuhörer. In der vom Publikum gesäumten Hallenmitte erinnerte ein Arrangement aus über Gänge verbundenen Mini-Bühnen an das Bollwerk des chinesischen Kaiserreichs. Die „Bewehrung“ der Gänge zwischen den „Wachtürmen“ bestand aus Workshopteilnehmern, die nach Anweisung des Komponisten Teile aus Gedichten zu flüstern hatten.

Der Rest des Publikums wurde vom Komponisten zu einer Summ-Meditation animiert. Aus der Ruhe heraus sollte man verfolgen, wie auf einer der Wachturm-Klanginseln ein akustisches Feuer entzündet wurde, wie die Musiker der einen der nächsten zu Hilfe eilten, dabei die Workshop-Teilnehmer mit Gesten zum lauterem oder leiserem Flüstern herausfordernd. Als der dramatische Angriff abgewehrt war, erloschen Lichter und Aktionen. Von Schlagzeugschlägen gelenkt fand der eigene Herzschlag zur Ruhe und der Komponist animierte wieder zum Summen, bis zur Stille nach dem Stück, die leider allzu schnell vom Beifall zertrümmert wurde.

Für sein ›In the Midst of the Sonorous Islands‹ hatte Christian Mason die Workshop-Teilnehmer zum Blasen auf Flaschen oder Mundharmonikas, sowie zum Schwenken klingender Qi-Gong-Kugeln angeleitet. Die übrigen Zuhörer sollten entweder ganz leise mit Alufolie knistern („Das ist mir noch immer viel zu laut!“) oder im selbstgewählten Rhythmus („Irgendwas zwischen eins und zehn – aber bitte durchhalten!“) leise rasselnde Ketten in ihre Handfläche gleiten lassen. Man musste aufmerksam in das Ensemble hineinhören und –sehen: Sobald Schlagzeuger Rainer Römer das Donnerbleck anschlug, wurde es vom Alufolieknistern schattiert. Dem Beckenschlag folgten rasselnde Ketten, den gegeigten Vibraphonstäben das Tönen der Flaschen und so weiter. Das Signal der Pauke setzte den jeweiligen Aktionen ein Ende. Wer Klänge erzeugt, hört sorgfältiger auf die anderen, meint Mason. Nur war man oft zu sehr mit der Konzentration auf den eigenen Einsatz beschäftigt, um noch angemessen den Rest der Musik zu verfolgen.

Workshop-Teilnehmer äußerten sich enthusiastisch über ihre Erlebnisse. Wohl auch, weil sie in mehreren Übungs-Durchgängen wesentlich tiefer in die gespielten Stücke eindringen konnten, als das Publikum bei einmaligem Hören.

DORIS KÖSTERKE

 

Alexander Goehr – Ensemble Modern

Alexander Goehr im Fokus

„Alexander Goehr? – Kenn ich nicht“ galt allenfalls vor dem fesselnden Dritten Abonnementkonzert des Ensemble Modern im Mozart Saal der Frankfurter Alten Oper.

Goehr wurde 1932 in Berlin geboren. Kurze Zeit später übersiedelten seine Eltern mit ihm nach England. Als Sohn des Dirigenten und Schönberg-Schülers Walter Goehr wuchs er im engen Kontakt zur kontinentalen Avantgarde auf, wurde Schüler von Messiaen, Freund von Boulez und wacher Beobachter der Entwicklungen rund um die Darmstädter Ferienkurse.

Als über Achtzigjähriger schrieb er seinen Vokalzyklus „Verschwindendes Wort“ (2014-15) auf deutsche Texte. Von Jakob Boehme, Friedrich Müller, Bachmann, Rilke, Walser und Mandelstam, übersetzt von Celan. Alle kreisen um die Grenzen von Sprache. Das zwölfteilige, von fünf instrumentalen „Preludes“ durchsetzte Werk erlebte an diesem Abend ebenso seine Deutsche Erstaufführung, wie „Manere I-III“ (2008; 2016), zwei Duos und ein Trio aus seriell verarbeitetem Material aus einem gregorianischen Choral. Wem es gelang, das aus dem Großen Saal herunterdröhnende Bässewummern innerlich auszublenden, erlebte deren klangschöne Interpretation von Ib Hausmann (Klarinette), Saar Berger (Horn) und Giorgos Panagiotidis (Violine) als pure Intensität mit keiner Note zu viel.

Der Pianisssimo-Schluss der nicht minder beeindruckend gespielten „Zeitmaße“ (1957) von Stockhausen fiel mit einem Schlagzeugscheppern aus dem darüberliegenden Großen Saal zusammen. Derartige Zusammenstöße sollten in der Alten Oper bitte nicht zur Gewohnheit werden! Robuster gegen die Dominanz von oben erwiesen sich die anregend irritierenden Ophelia Dances op. 13 von Oliver Knussen, Book 1 (1975), dirigiert von dem faszinierend schillernden Jonathan Berman, der auch Goehrs Verschwindendes Wort dirigierte. Schade, dass hier die Texte nicht, wie sonst üblich, im Programmheft abgedruckt waren. Denn beim nachträglichen Raussuchen war der Bezug zur Musik nicht mehr präsent. Andererseits fanden die klanglich sehr differenzierte Musik und der Gesang von Lucy Schauffer (Mezzosopran) und Christopher Gillett (Tenor) zu einer überzeugenden Meta-Aussage zusammen: Zu einer soghaften Atmosphäre großer Ernsthaftigkeit, sinnbildlich für einen Menschen, der, umgeben von Erfolgreichen, stets seinen eigenen Weg gesucht und darin zur überzeugender Ausstrahlung gefunden hat.

DORIS KÖSTERKE

Bang On A Can @ Villa Musica, Frankfurter Hof, Mainz

Sie wollten gute Musik schreiben. Aber für wen? An amerikanischen Elite-Universitäten ausgebildet verzweifelten drei junge, eng miteinander befreundete Komponisten am Musikgeschmack New Yorker Kunstfreunde, die sich für die Avantgarde anderer Kunstgattungen begeisterten, aber erschreckend minderwertige oder rückwärtsgewandte Musik auf sich einwirken ließen. Um dem entgegen zu wirken, gründeten Julia Wolfe, Michael Gordon und David Lang 1987 in New York das Festival Bang On A Can. Es entwickelte sich rasch zu einem ausstrahlungsreichen Anlaufpunkt für Macher und Genießer zeitgenössischer Musik.

Die Landesstiftung Villa Musica hat das Hausensemble dieses Festivals, THE BANG ON A CAN ALL-STARS eingeladen, eine Woche lang mit ihren Stipendiaten zu arbeiten. Als Auftakt stellte sich das Ensemble im Frankfurter Hof in Mainz mit einem Konzert vor, das sein Kontrabassist Robert Black launig als „Greatest Hits“ beschrieb: das heißt, dass dieses Programm längst nicht die aktuelle stilistische Bandbreite des Festivals repräsentiert. Umrahmt von zwei Altmeisterstücken der Minimal Music, Electric Counterpoint von Steve Reich und Closing von Phil Glas, erklang jeweils ein Stück von jedem der drei Festivalgründer, die die Konzeption des Festivals noch immer gemeinschaftlich tragen.

Sunray von David Lang (*1957) klang in der Tat wie gleißendes Licht in wechselnden Schattierungen. In Believing von Julia Wolfe (*1958) arbeiteten sich Kantilenen von Cello (bezaubernd: Ashley Bathgate!) und Kontrabass aus dem virtuos pulsierenden Klangstrom. In For Madeline von Michael Gordon (*1956), einem Requiem für seine Mutter, ließen Glissandi an ein Klagegebet, Tremoli an eine Balalaika und E-Bow-Klänge des E-Gitarristen Derek Johnson an Urwaldvogelkonzerte denken. Von der Minimal Music übernommen hatten alle drei Komponisten die nahezu maschinenartig hämmernde Energetik und rhythmische Muster, die sich gegeneinander verschieben: Wer im Rhythmus der Musik mit dem Kopf wippte, geriet bald aus dem Takt. Sie schaffen eine psychedelische Mischung aus Konzentration und Irritation, die sich für Musiker und Zuhörer in einen Zustand der Erfrischung auflöst.

Während seiner Residenz auf Schloss Engers gibt das Ensemble zusammen mit den Stipendiaten der Villa Musica jeden Abend um 18 Uhr ein Kurzkonzert. Das vierstündige Abschlusskonzert findet am Samstag, den 26.11. ab 18 Uhr im Frankfurter Hof Mainz statt. Da darf auch raus- und reingegangen werden. Denn die Musiker müssen sich bei dieser Musik dermaßen stark konzentrieren, dass es sie kaum stören wird.

DORIS KÖSTERKE