HUMANOISE congress #28 in Wiesbaden

 

Woran macht man fest, dass ein Konzert gut war? Zum Beispiel daran, dass man ausgelaugt und lustlos hineingegangen ist, doch schon unter den ersten Klängen „ganz Ohr“ wurde; dass man sich nach fast drei Stunden fragte: „Was? Schon aus?“ und auf dem Heimweg befand: was hier geboten wurde, hat mir schon lange gefehlt. …weiterlesen

“If this then that and now what”

Eine Art Musiktheater von Simon Steen-Andersen, aufgeführt in Mainz

„Ich“ – nein, so kann man nicht anfangen. Die Buchstaben verschwinden wieder von der Leinwand über der Bühne vom Kleinen Haus in Mainz. Auch andere Anfänge werden verworfen. „Seit Ewigkeiten hatte ich den Plan, ein Buch zu schreiben, das mit diesem Satz anfangen sollte. Das einzige Problem war nur: Wie sollte es danach weitergehen?“ scheint zwar nicht besser, bleibt aber stehen. “If this then that and now what” von Simon Steen-Andersen ist ein Stück über die Nöte, ein Stück zu schreiben. Ein unter der Leinwand schwankendes Spiegelbild vom Zuschauerraum mahnt: das geht dich an.

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„Die Menschen hungern, und er macht Musik“


„Viele halten ihn für wahnsinnig, manche dachten das immer.
Die Menschen hungern, und er macht Musik.
Aber es ist ja mehr als das, es geht ums Prinzip,
darum, dass er sich
diesem Krieg, der Herrschaft des Todes und der Gewalt einfach verweigert,
dass er festhält, an dem, was der Mensch in seinen besten Momenten ist:
empfindsam für Schönheit. Und für seinen Nächsten.
Er ist ein Künstler im besten Sinne“.


– Sonja Zekri über den Pianisten Aeham Ahmad, Süddeutsche Zeitung, 2015

Werte gegen Gewalt

 

„Durch einen Granatsplitter in seiner linken Hand wird ihm eine weitere Karriere als klassischer Pianist voraussichtlich versperrt bleiben“, heißt es auf verschiedenen Internetseiten. Aeham Ahmad, der in den Ruinen von Damaskus Klavier spielte, um Verzweifelte ihre Würde fühlen zu lassen, gab im dicht besetzten, von Historismus und alkoholischen Düften gesättigten Foyer zum Großen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden kein „Klavierkonzert“ im herkömmlichen Sinne. Zusammen mit dem ägyptischen Perkussionisten Bergo Ibrahim Kamal, in selbstverfassten Balladen und unverkrampften Improvisationen im Mainstream-Jazz-Idiom mit klassisch-arabischen und klassisch-westlichen Momenten, leistete der filigran gebaute Pianist leise Schwerstarbeit: Im Transzendieren von Erlittenem in die Kraft der Musik. Und im unablässigen Versuch, sein Publikum zu erreichen.

Aeham Ahmads Stücke erschienen wie sein Händedruck: eine unendlich zarte Botschaft der Wertschätzung an das unbekannte Gegenüber. Die Balladen, die er zu seinem Klavierspiel ins Mikrophon haucht, beginnen oft mit einem tonlosen Seufzer, um sich zu Vokalisen aufzuschwingen, Ausdruck von Sprachlosigkeit angesichts des Besungenen, oder Mantra-artig ein einziges Wort in den verschiedenen Beleuchtungen der Musik leben zu lassen, wie „Jarmuk“, das palästinensische Flüchtlingscamp bei Damaskus, in dem er aufgewachsen ist. Oder das Lied auf den Duft vom Jasmin, der die Gasse erfüllte, in der er in Jarmuk gewohnt hatte.

„Das Leben ist so schön. Warum verbringen manche Menschen es damit, andere zu verletzen? Ich verstehe das nicht!“, rief Bergo Ibrahim Kamal in akzentfreiem Deutsch. Er übersetzte, was Aeham Ahmad ihm auf Arabisch zugeraunt hatte und glaubt, auch darüber hinaus dem kleinen, schmalen Pianisten mit den sprühenden Augen und den vielen Demutsgesten aus der Seele zu sprechen.

Eindrucksvoll war die von Bergo Ibrahim motivierte Schweigeminute gegen Ende des Konzerts, zu dem sich das Publikum willig erhob. „Wir denken jetzt nicht an die Toten, sondern an unsere Kraft, Gutes zu tun“.

Wird Aeham Ahmad seine Karriere als klassischer Pianist fortsetzen können? Wahrscheinlich. Wichtiger als sein kultiviert akkurater Anschlag ist sein Charisma. Und dass er sich mitunter in seiner eigenen Virtuosität verheddert, macht nichts angesichts seiner Botschaft: Kulturelle und menschliche Werte gegen Gewalt, Macht und Statussymbole.

In jedem Falle hat er die Kraft, davon zu überzeugen, dass als Bittsteller behandelte Flüchtlinge den hier Sesshaften Wichtiges „geben“ können.

 

DORIS KÖSTERKE
15.6.2016

Titus Grab – Ein anachronistischer Trendsetter

Rein subjektive Eindrücke einer völlig Fachfremden
aus lange zurückliegenden Begegnungen mit Titus Grab

 

 

 

Zum ersten Mal begegnete ich Titus Grab auf einem stark heruntergekommenen Bahnhof.

Ich fand, dass es dreckig war und stank. Doch er begeisterte sich für die „wunderschöne alte Bausubstanz“: für die Mauern aus aufwändig gequadertem Sandstein, für das Unterführungs-Gewölbe mit der Zierverblendung aus verschiedenfarbigen Klinkern und schließlich auch für die sauberen Parallelkurven, in denen Elektriker darauf ihre Kabel verlegt hatten.

Durch diese Begegnung mit Titus Grab sah ich diesen (mittlerweile kaputtsanierten) Bahnhof als ein Gemeinschaftswerk von vielen, vielen Menschen aus verschiedensten Bevölkerungsschichten. Jeder hatte sein Bestes gegeben. Für die Maurer und die Fliesenleger waren die sauberen Fugen Ausdruck ihres Könnens und ihrer Sorgfalt.

 

Titus Grab ist nicht zuletzt ein Wahrnehmungs-Künstler.

Mit so kenntnisreichem wie kritischem Blick betrachtet er seine Umgebung, die physische wie die soziale, und greift gestaltend ein.

 

Als er einmal nach Vorbildern für seine Kunst gefragt wurde, nannte er unter anderen Josef Beuys. Aber auch seine aus dem Hunger-Gebiet Schwäbische Alb stammende Großmutter: Sie habe ihn gelehrt, mit geringsten materiellen Mitteln stilvoll und genussreich zu leben.

 

In diesem Sinne zielt Titus Grabs Kunstbegriff auf ein Gestalten des gesamten Lebens. Beginnend mit dem, was Hundertwasser als „dritte Haut“ bezeichnet hat.

 

Weiße Wände, die hinter dem zurücktreten, was in ihnen geschieht, erscheinen mir wie ein Markenzeichen für einen von Titus Grab gestalteten Raum. Minimalistisches Mobiliar aus dezent konserviertem, in seinem natürlichen Farbton belassenem Holz schaffen eine karge, umso ausstrahlungsreichere Behaglichkeit.

Um eine gedankliche Suche zu vertiefen, räumte er einmal einen Raum komplett frei und strich die Wände weiß an. Außer dem Holzofen in der Ecke gab es zu dieser Zeit nur noch einen Stuhl, einen Tisch und darauf ein weißes Blatt Papier, einen Bleistift und eine weiße Kerze.

 

Über seine Wohnung und sein Atelier hinaus gestaltet er auch soziale Situationen.

Ein mittlerweile über die Grenzen Deutschlands hinaus verbreitetes Projekt von ihm sind die „KunstKoffer“, mit denen erfahrene Kunstpädagogen zu Kindern in sozialen Brennpunkten gehen. Zu regelmäßigen Zeiten an festen Orten geben sie Kindern die Möglichkeit, das, wie Titus Grab es nennt völlig „eigen(!)willige“ gestalterische Potential in sich selbst zu erfahren: Es wächst im Gestalten von konkreten Objekten und sollte sich später auf die eigene soziale Situation übertragen.

 

Eines seiner jüngeren Projekte ist der Feuerraum. In diesem robust ausgestatteten Raum gibt er Stadtkindern die Möglichkeit zu erleben, was Holz ist: Wie es riecht, wie es sich anfühlt, wie es gemasert ist. Oder wie es sich verhält, wenn man es zerzupft, zerhackt oder zersägt und schließlich, wie es brennt: das eine überschwänglich, das andere verhalten und ausdauernd, immer aber in verschiedenen Farben und mit jeweils eigenen Gerüchen und Klängen.

 

Es sind Erlebnisse, die in unserer Zeit kaum Platz zu finden scheinen und die dennoch reiche Resonanz auslösen – als umfassend sinnliche Antithese zu einer von vermittelten Bildern geprägten Gegenwart, in der sich die Arbeit der Hände hauptsächlich auf das Drücken von Tasten an elektronischen Geräte beschränkt.

 

Er gibt Anstöße, um das, was in dieser Zeit geschieht in Frage zu stellen und nach anderen, im wahrsten Sinne des Wortes „Sinn-volleren“ Wegen zu suchen. Voll vielfältiger und umfassender Hand-Arbeit, konsum-abstinent, stilvoll und genussreich.

Gebote der Anarchie

Dies ist ein Text über konstruktive Anarchie. Nicht nur in der frei improvisierten Musik.
In der sich jeder für das Ganze verantwortlich fühlt und nach eigenem Ermessen sinnvoll dafür einsetzt.
Und in der niemand einem anderen Vorschriften macht, was er zu tun und zu lassen habe.
Er fußt auf Gesprächen mit dem Wiesbadener Improvisations-Ensemble „WIE?!“ (Dirk Marwedel, Ulrich Philipp, und Wolfgang Schliemann), sowie auf Gedanken von John Cage.

 


 

 

„ … when men are prepared for it, that will be the kind of government which they will have.“
Henry David Thoreau, On the Duty of Civil Disobedience

GEBOTE DER ANARCHIE

In der frei improvisierten Musik ist das Verhältnis der Musizierenden zueinander „anarchisch“ im ursprünglichen Sinne des Wortes von „ohne Herrschaft, ohne Führer sein“: Jeder Ausführende ist zugleich „Komponist“ und „Interpret“ – und mit diesen Funktionen tragen die improvisierenden Musiker auch deren Verantwortung.
Erstes Gebot der Anarchie:
Du sollst Dich für das Ganze mitverantwortlich fühlen.
Ganz bewusst ist hier nicht von „Freiheit“ die Rede, sondern von „Verantwortung“. Eine so verstandene musikalische Anarchie ist ein Spiegel für eine (utopische) gesellschaftliche Grundhaltung, in der jeder selbst beurteilt, in welcher Weise er seine persönlichen Fähigkeiten für ein allgemeines Gelingen einsetzen kann. Voraussetzung ist, dass man neben seinen eigenen auch die Möglichkeiten seiner Mitspieler im Blick hält.
Zweites Gebot der Anarchie:
Du sollst Deine Mitspieler achten, wie Dich selbst.
Bescheiden veranlagten Mitspielern muss man das anders herum sagen: Du sollst Dich genau so hoch achten, wie Deine Mitspieler. Eigenständigkeit gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen der Gruppenimprovisation.
Doch, wie im Rest des Lebens, sollte man bisweilen auch die Impulse anderer mittragen.
Drittes Gebot der Anarchie:
Du sollst einen Mittelweg suchen zwischen Individualismus und Opportunismus.
Um sich selbst ein Profil zu geben, halten sich manche Improvisatoren an einem Personalstil fest.
Doch dieser birgt die gleiche Gefahr, wie das Befolgen melodischer oder rhythmischer Muster in der so genannten idiomatischen Improvisation, nämlich, dass man sich mehr auf die Pflege des Idioms (und letztlich der Selbstdarstellung) konzentriert, als auf die „Tiefe des Augenblicks“.

Die Improvisation lebt jedoch davon, dass sich ihre Richtung in jedem Augenblick neu bestimmen lässt.

Das vierte Gebot der Anarchie:
Du sollst Dich nicht darauf verlassen, dass Menschen und Dinge so bleiben, wie sie sind.
Wenn eine feste Gruppierung von Musikern lange genug zusammen gespielt hat, liegt es nahe, dass sich unter ihnen bestimmte musikalische Verhaltensmuster einspielen, vergleichbar mit dem ritualisierten Miteinander alter Ehepaare. Doch ebenso sollte man das Unerwartete um des Unerwarteten Willen, Veränderungen um der Veränderungen Willen begrüßen.
Dies widerspricht im Kern einer Verschulung der Improvisation. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, zu reflektieren, was stattfindet und aus welchen Gründen etwas als gut oder weniger gelungen empfunden wurde.
Dennoch sollte man offen sein und offen bleiben, wenn gute Musik allen Lehrmeinungen widerspricht.
Das fünfte und letzte Gebot der Anarchie:
Du sollst dich nicht hinter Wertmaßstäben verschanzen.

 

 


Der Text war die Quintessenz einer gleichnamigen Radiosendung von mir aus dem letzten Jahrtausend. …weiterlesen