Kultur – wozu? – Aus: 100 Minuten für John Cage

Kultur – wozu?[1]

Diese Frage hat John Cage sich vorbehaltlos gestellt. Die Antworten, die er darauf fand, schweben keinesfalls abstrakt über seinem Schaffen. Es ist gerade das Besondere an Cage, dass er sie zur Grundlage seiner Kunst gemacht hat[2]:

Seit etwa Ende der 1940er Jahre begriff er sein künstlerisches Schaffen als „eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert“[3]. Klänge sollten nichts als freie Klänge und, Menschen nichts als freie Menschen sein.
Cage fand diese „freien“ Klänge viel frischer und interessanter als „gewollte“, und beobachtete, dass auch die Menschen, die mit ihnen umgingen, viel fröhlicher davon wurden.

Später[4] verglich er seine Musik mit Sandkastenspielen zum Vorbereiten der eigentlich anstehenden Arbeit: Einer Revolution, einem Umwälzen der gängigen Art zu leben und miteinander umzugehen, um den Fortbestand der Menschheit auf dieser Welt nicht länger zu gefährden[5].

Diese Verquickung von Komposition und außermusikalischer Utopie[6] möchte ich Ihnen in drei Aspekten verdeutlichen: Zufall, Stille und Unbestimmtheit.

Mitte der 1940er Jahre hatten persönliche Schwierigkeiten Cage zur Scheidung von seiner Frau und in eine umfassende Krise geführt. Er fragte sich, warum er überhaupt Musik schrieb und auch, wie er besser mit sich selbst umgehen könnte.

Auf pragmatisch-unorthodoxe Art beschäftigte er sich mit fernöstlichen Weisheitslehren. Aus dem Buddhismus lernte er, alles menschliche Leiden komme aus dem so genannten „Durst“: Man will unbedingt etwas, das einem versagt ist. Und leidet, weil man es nicht bekommt.

Wenn man also glücklich leben will, befand Cage, braucht man sich doch einfach nur abzugewöhnen, bestimmte Dinge zu wollen oder nicht zu wollen.

Das Komponieren wurde für ihn zu einer Art Zen-Übung[7], in der er versuchte, Töne nichts als freie Töne sein zu lassen, ohne den „Klebstoff“ einer Technik, die ihnen einen bestimmten Platz in einem Ganzen zuwies. Mit verschiedenen Zufallsoperationen versuchte er, sich über die Art seines Komponierens von der Tyrannei seiner Vorlieben und Abneigungen zu befreien.

Und in Perioden einkomponierter Stille Fenster und Türen zu den Geräuschen der Umgebung zu öffnen[8].

Das Stillsein hatte er bereits als Fünfzehnjähriger als politisches Mittel angepriesen und damit einen Rhetorikwettbewerb kalifornischer Highschools gewonnen. Das Thema hieß „Lateinamerika – wie sollen wir uns verhalten?“. Und der Kernsatz in Cages Antwort war:

„Es wäre eine der größten Segnungen, die den Vereinigten Staaten … widerfahren könnte, wenn sie ihre Industrie anhalten würden, wenn ihre Wirtschaft aussetzte und dem Volk das Reden verginge, wenn schließlich alles stillstehen würde, was läuft … . Dann könnten wir die Frage beantworten ‚Was sollten wir tun?’. Denn wir wären schweigsam und still und hätten Gelegenheit zu erfahren, dass andere Völker denken“[9].

Nicht von ungefähr hat er etwa seine „Lecture on the Weather“, die er 1976 im Auftrag des kanadischen Rundfunks für die 200-Jahrfeier der USA schrieb, mittels Zufallsoperationen und in den Proportionen seines Stillen Stückes 4’33’’ geschrieben.
Cage begriff dies als konstruktive Kritik am Führungsstil der USA. Denn beim Regieren über Zufallsentscheidungen könne niemand systematisch ausgebeutet und unterdrückt werden, weder die Umwelt noch ärmere Mitmenschen[10].

Mir geht es mit diesen Zitaten nicht darum, Stimmung gegen die USA zu machen, sondern um Cages Gemeinschaftsideal, das hier anklingt:

Cage zitiert recht oft den Satz, mit dem Henry David Thoreau sein Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“[11] beginnt: „Die beste Regierung ist die, die gar nicht regiert. … Und wenn die Menschen nur erst reif dafür sein werden, wird dies die Regierungsform sein, die sie haben werden“[12].

Menschen über die Beschäftigung mit seiner Musik reif zu machen für eine konstruktive Anarchie[13] wurde zu Cages kompositorischem Ziel.

Eine Antwort waren seine „unbestimmten“ Stücke, in denen er abstrakte Aufgaben stellt, die die Interpreten ohne ein vorgegebenes Ziel zu lösen haben. Bei der Aufführung solcher „anarchisch“ konzipierten Stücke ermöglichte Cage seinen Interpreten die Erfahrung, völlig uneigennützig, mit Spaß an der Sache und effektiv zusammen zu arbeiten[14] und beobachte:

„Furcht, Schuld und Gier, die mit hierarchischen Gesellschaftsformen verbunden sind, weichen einem gegenseitigen Vertrauen … und einem Bedürfnis, miteinander zu teilen, was der eine haben oder tun haben mag“,

schrieb er in „Empty Words“[15]. An diese Erfahrung und seine Überzeugung, dass man Menschen am besten durch angenehme Erlebnisse ändern könne knüpfte er die Hoffnung, dass jeder Einzelne die gesamte Menschheit als seine Familie und die ganze Erde als sein Zuhause ansehen könnte, in dem er beim Aufräumen hilft.

Als Cage 1990 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt zu Gast war, eröffnete er die Forumsdiskussion mit einem Vortrag über seine Sicht auf den Zustand der Welt, den er als „unbestimmt“ bezeichnete:

Während die Menschheit in Gefahr sei, ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören, gebe es keinen Standpunkt, auf dem man mit Sicherheit beharren könnte und kein Ziel, das sich mit gutem Gewissen verfolgen ließe. Das Ganze sei völlig anders, als alles, was es bisher gegeben habe[16]. Es gebe keine Erfolg versprechenden Konzepte.

Angesichts der Vielzahl von gleichermaßen anerkannten – oder auch gleichermaßen nicht anerkannten Ansichten davon, was getan werden müsse, sei jeder auf eignes Urteilsvermögen zurückgeworfen.

Die elektronischen Medien befähigten jeden Menschen, sich sein eigenes Bild vom Zustand der Welt zu machen und auch davon, an welchem Punkt er seine Kraft einsetzen könnte, um etwas zu ändern.

Dabei sollte sich niemand einfach der Meinung eines anderen anschließen: Sobald sich eine Ansicht gesellschaftlich durchsetzt und durch den Rückhalt von öffentlichen Institutionen verstärkt wird besteht die Gefahr, dass eine falsche Entscheidung in ihrer Wirkung multipliziert wird und mehr schadet als nützt[17]. Wenn hingegen jeder Mensch aus eigenem Zentrum heraus gemäß seinem eigenen Urteilsvermögen und natürlich einem hohen Verantwortungsbewusstsein heraus handelt, besteht die Hoffnung, dass sich innerhalb der individuellen Meinungen darüber, was zur Rettung der Welt getan werden müsse, eine Art ökologisches Gleichgewicht einstellt.

Ich danke Ihnen!

 

„100 Minuten für John Cage“ war eine von Julia Cloot organisierte Veranstaltung in der HfMDK am 12.12.2012, nachträglich zu Cages hundertstem Geburtstag

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Abkürzungen für zitierte Werke:

JCS: John Cage, Silence. Lectures and Writings by John Cage, Middleton, Conn. 1961.

JCA: John Cage, A Year From Monday. New Lectures and Writimgs, Middleton, Conn. 1967.

JCE: John Cage, Empty Words. Writings ’73-’78. Middleton, Conn. 1979.

JCG: „John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit“. Hg. von Richard Kostelanetz, Köln 1989.

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[1] Vortrag, gehalten am 12.12.20012 in der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt am Main im Rahmen von „100 Minuten für John Cage“.

[2] An vieler ausdrücklich politischer Musik kritisiert Cage, dass ihr ein Übermaß an theoretischen Konzepten beziehungslos vorangestellt würde („John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit“. Hg. von Richard Kostelanetz, Köln 1989. Ss.  200; 145).

[3] John Cage, Lecture on Something, In: John Cage, Silence, Middleton, Conn. 1961, S. 139: „… art is a sort of experimental Station in which one tries out living“ (Übersetzung von Ernst Jandl, S. 54.); Vgl. auch: „Musik … , die mit dem Rest des Lebens nichts zu tun hat, interessiert mich schon lange nicht mehr. Rein musikalische Fragen sind keine ernsthaften Fragen mehr“ – “For many years I have noticed, that music – as an activity seperated from the rest of life – doesn’t enter my mind. Strictly musical questions are no longer serious questions”. (JCE 177).

[4] In seinem Aufsatz „The Future of Music“ (1974/79), abgedruckt in JCE, S. 177-187.

[5] „My Ideas certainly started in the field of Music. And that field, so to speak, is child’s play. (We may have learned … in those idyllic days, things it behoves us now to recall.) Our proper work now if we love mankind and the world we live in is revolution”. JCA, S. IX; 16.Vgl. auch JCE 182;

[6] Zu Parallelen zwischen Musik und gesellschaftlicher Utopie vgl. seinen Aufsatz „The Future of Music“ (1974/79), abgedruckt in: JCE, S. 177-187.

[7] “Die Idee vom Nirwana ist nicht etwas Negatives, sondern meint das ‘Auslöschen’ der Dinge, die die Erleuchtung verhindern“, sagte er in einem Gespräch (“John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit“. Hg. von Richard Kostelanetz, Köln 1989. S. 48. Vgl. auch im gleichen Buch S. 22). Nach östlicher Auffassung gehören sowohl das menschliche Wollen, wie auch das auf innere Schlüssigkeit ausgerichtete menschliche Denken zu den Erleuchtungshindernissen.
[8] Vgl. JCG S. 25.

[9] John Cage: Andere Völker denken (1927). Abgedruckt in: Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973, S. 72-76; S.75.

[10] Vgl: John Cage: Preface to „Lecture on the Weather“. Abgedruckt in: JCE, S. 3-5.

[11] „The Resistance to Civil Government“, 1849.

[12] JCE, S. 183.

[13] John Cage: Empty Words. Writings `73-`78. Middletown, Conn. 1979; S.18.

[14] „The Future of Music“ JCE, S. 186.

[15] JCE 182.

[16] Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (1979), deutsch Frankfurt/M. 1984, S. 7.

[17] Mit Cage ließe sich sagen, dass viele Probleme unserer Zeit gerade dadurch entstanden, dass man sein Augenmerk auf Bestimmtes fixiert hat, während scheinbar periphere Dinge unbemerkt zu gravierenden Problemen angewachsen. Zum Beispiel war es lange ein Ziel, mit immer weniger Aufwand immer mehr Annehmlichkeiten zu genießen, etwa, indem man Autos immer funktionstüchtiger und billiger machte. Erst später merkte man, dass nicht nur ihre Abgase zum Problem werden.