Mainzer Musiksommer 2021

Den Mainzer Musiksommer 2021 eröffnete ein Tschechisch-Deutsches Kammerorchester mit einem Konzert „Goldenes Prag“.

MAINZ. Märchenhaft waren die ersten Klänge in Dvořáks Streicherserenade E-Dur, op. 22. Mit dem hochsensiblen Aushorchen leisester Klänge eröffneten junge Streicher den Mainzer Musiksommer 2021. Zu diesem Anlass im Großen Saal des Schlosses hatte sich ein Tschechisch-Deutsches Kammerorchester zusammengefunden, aus Stipendiaten der Villa Musica und Mitgliedern der Tschechischen Kammermusik-Akademie. …weiterlesen

IEMA 20/21 zeigt Logik jenseits vom Mainstream

 

„Hier werden Musiker ausgebildet, die mit ihrer Musik etwas wollen“, sagt Ensemble-Modern-Fagottist Johannes Schwarz im kurzen Image-Film über die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA). Die einjährige Ausbildung vermittelt ein breit gefächertes Handwerkszeug, „um als Künstler nicht nur zu überleben, sondern auch etwas zu bewegen“.

Was können Musiker bewegen? Sie können zeigen, dass mitunter auch jenseits des Gängigen eine zwingende Logik waltet. …weiterlesen

FAKE (REAL) BOOK im Frankfurt LAB

 

FRANKFURT. „Kommt rein! Sucht euch einen Platz!“ animierte das Wesen im bunten Tutu. Die Gekommenen reagierten überwiegend ratlos: Dicke schwarze Vorhänge durchzogen die große Halle im Frankfurt LAB. Hier und da platzierte Gegenstände verhießen eine spätere Aktion. Doch ein Überblick über das Ganze war durch die Vorhänge verwehrt, die aufgestellten Stühle erschienen ausnahmslos als Plätze mit Sichtbehinderung.

Fake News und „Wahrheit“

Über Assoziationen des Titels „FAKE (REAL) BOOK“ mit Fake News und „Wahrheit“ fühlte man sich wie einer der legendären Blinden, die einen Elefanten betasten und dabei je nach Standpunkt, am Stoßzahn, am Schwanz, am Rüssel, an einem Bein, am Ohr oder unterm Bauch, auf durchaus wahrhaftigem Wege zu unvereinbar verschiedenen Aussagen darüber gelangen, wie ein Elefant sei.

Dabei war „The Alvin Curran Fakebook“, auf dem diese Gemeinschaftsproduktion von Ensemble Modern und Hessischer Theaterakademie, dem Regisseur Paul Norman und dem ehemaligen Ensemble-Modern-Trompeter Valentín Garvie fußte, nicht als erkenntnistheoretischer Diskurs geplant: Nach dem Vorbild der „Fakebooks“, in denen traditionelle Jazzer die Melodien und Harmonien für ihre Improvisationen skizzieren, hat der amerikanische Komponist Alvin Curran Texte, Bilder und Melodien aus seinem Leben festgehalten. Die Melodien waren teils selbst komponiert, teils, wie sein „Amazing Cage“, lose vom Broadway adaptiert. In jedem Falle jedoch explizit zur Verfügung gestellt, damit kreative Andere etwas draus machen: Sein Fakebook stehe „abenteuerlustigen Musikern, ob gebildet oder ungebildet, Klangkünstlern, Wissenschaftlern, Kompositions- und Improvisationslehrern, Amateuren, Avantgardisten im Endstadium, Bloggern, Straßenmusikern, Buchliebhabern oder jedem, der sich für meine Arbeit und die Entwicklung der Kunst-Musik in unserer Zeit interessiert, zur Verfügung; es soll genossen und benutzt werden“, schrieb der 1938 geborene Komponist dazu.

In der musikalisch von Valentín Garvie motivierten Realisierung nahm man zunächst wahr, dass Ensemble-Modern-Musiker auch groovend improvisieren können und Schauspieler durchtrainierte Menschen sind: Man staunte etwa über ein ausdauernd Trampolin springendes Wesen, das dem Abend seinen Puls gab, über einen Sprint auf High-Heels oder eine perfekt optimierte Seilspringtechnik. Der interdisziplinäre Ansatz der Hessischen Theaterakademie bewies sich im sängerischen Durchhalten von Dissonanzen in der Cluster-Mixtur einer choralähnlichen Melodie. Das „urdemokratische“ der Akademie, das Philipp Schulte in seiner Begrüßung hervorhob, zeigte sich auch in genderfluiden Kostümen: als Männer „Gelesene“ trugen oft Abendkleid oder Ballettkostüm über der Jogginghose.

Alvin Curran hat seinen musikalischen Vorlagen auch unverbindliche Spielregeln mitgegeben. Im späteren Verlauf der Aufführung erlebte man mittlerweile vertraut gewordene Weisen etwa in den Variationen „rückwärts“, in der die Musiker klangen wie ein gespieltes Tonband. Oder „Duett“, in dem die Erwartungshaltungen erfrischend irregeleitet wurden, wer wohl gerade mit wem zusammenwirkte. Oder „Tauschen“, in dem eine der Schauspielerinnen zeigte, dass sie auch Cello spielen kann, während Schlagzeuger David Haller sich wohl auch ein wenig absichtlich mit dem Springseil in seinem Tutu zu verheddern schien.

Insgesamt spiegelte der Abend Alvin Curran, der sein Künstlersein von je her emphatisch mit Anderssein und Rebellion verknüpft hat. Und zugleich einmal bekannte, leidenschaftlich gern zusammen mit seiner Frau vierhändig am Klavier Mozart zu spielen.

DORIS KÖSTERKE
12.6.2021

Auferstehung der Lautten Compagney Berlin

 

FRANKFURT. Viele Musiker haben sich im Corona-Lockdown wie lebendig begraben gefühlt. Ihre „Auferstehung“ sollte auch bei den Frankfurter Bachkonzerten gefeiert werden. Dafür wollte Wolfgang Katschner den Weg aus dem Dunkel ans Licht mit Werken von Bach nachzeichnen, aber zur Sommerzeit nicht etwa mit dessen Osterkantaten. Also machte er etwas, was Johann Sebastian Bach auch häufig selbst getan hat: er „recycelte“ bestehende Kompositionen und stellte aus den mehr als zweihundert Kantaten von Johann Sebastian Bach zwei neue zusammen. Die hat er jüngst mit seiner Lautten Compagney Berlin, dem Gesangsensemble Capella Angelica und der Sopranistin Dorothee Mields im Großen Saal der Alten Oper aufgeführt.

Beide Pasticcio-Kantaten waren ein jeweils achtteiliger Wechsel zwischen kammermusikalischen Besetzungen und solchen mit Streichern, Holzbläsern, Pauken und Trompeten. Die erste dieser Konglomerate aus Rezitativen und Arien war „Mein Herze gläubt und liebt“ überschrieben, nach der eingebauten Arie aus der Kantate 75. Zur Einleitung erklang der langsame Zweite Satz aus dem ersten der Brandenburgischen Konzerte. Leider degradierte die Größe des Raumes die Lauten zur Rhythmusgruppe. In anfänglichen, bald aufgefangenen Koordinationsschwierigkeiten und im allgemein eher angestrengt wirkenden Gestus meinte man den Musikern die Nachwirkungen der langen Einzelhaft-Situation in der Übezelle anzumerken. Dennoch ließen sie die lokomotivenstarke Energetik unter der elegischen Oberfläche spüren. Das folgende Rezitativ „Mein Gott, wie lang, ach lange“ aus der gleichnamigen Kantate 155 ist ein Beispiel, wie tief vertraut Bach mit dem Leiden eines Menschen war, der an seinem Kranksein verzweifelt. Dorothee Mields gelang die ideale Balance zwischen dem Einfühlen und Ausgestalten und zugleich dem Überformen der Verzweiflung in musikalischer Schönheit. Dass man in Bachs Musik immer beides spürt, die Schattenseiten und die Kraft, die darüber hinwegträgt, bleibt auch dann ein Faszinosum, wenn man die pietistischen Texte als schwer verdaulich überhört.

Dramaturgie mit langer Nachwirkung

Seine erste Kantate ließ Katschner mit dem Choral „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (aus BWV 190) ausklingen. Die vier Gesangssolisten der Capella Angelica ersetzten den Chor, die letzte Strophe sang Dorothee Mields allein: Rückzug in eine schlichte, aufrichtige Religiosität, mit dem Bach wohl jedes seiner großen Werke beschließt. Nach der Zweiten Kantate „Ein neues Lied wir heben an“ wurde die Demutsgeste in der Zugabe noch einmal aufgegriffen und gesteigert: der gleiche Choral ohne Pauken und Trompeten, über zartester Streicherbegleitung. Aus dieser Dramaturgie gewann der Abend seine lange und intensive Nachwirkung.

DORIS KÖSTERKE
20.6.2021

Händelfest des „Le Concert Spirituel“

Der Beifall brandete überaus üppig durch die Basilika von Kloster Eberbach für die Musiker des Ensembles Le Concert Spirituel, Gäste des Rheingau Musik Festivals. „Händelfest“ hieß das keine Überraschung verheißende Programm: Auf die drei Suiten von Händels „Wassermusik“ folgte die Arie „Ombra mai fu“.

Geistreich, witzig, erbaulich

Weil auflagenbedingt niemand öffentlich singen darf, spielte Héloïse Gaillard die ursprünglich für einen Kastraten geschriebene Sopranstimme auf der Oboe, „geistreich, witzig, erbaulich“, wie man „Spirituel“ auch übersetzen kann.

Le Concert Spirituel

Der Name des Ensembles verweist auf die Einrichtung, die von 1725 bis 1791 auf trickreiche Weise ein bürgerliches Konzertleben in Paris etablierte: Eigentlich lag das Monopol für öffentliche Musikdarbietungen derzeit bei der königlichen Musikakademie. Doch die pausierte an den immerhin rund dreißig katholischen Feiertagen im Jahr. Da ertrotzten sich Musiker die Erlaubnis, an ebendiesen Feiertagen zu spielen – mit dermaßen viel Erfolg, dass die königliche Akademie sich die Reihe schließlich einverleibte.

Notentext gegen den Strich gebürstet

„Geistreich, witzig, erbaulich“ ist die Herangehensweise von Hervé Niquet, dem Leiter und Gründer des Ensembles: er scheint den Notentext so lange gegen den Strich zu bürsten, bis er einen erfrischenden Gehalt darin gefunden hat, etwa den witzigen Bewegungsimpuls eines Fantasiewesens. Seine Musiker sind für seine Ideen dermaßen empfänglich, dass er sie machen lassen kann. Bei der Aufführung braucht er keine großen Gesten. Bisweilen hält er die Hände still am Kinn, wie beim Nachdenken, bisweilen tanzt er mit dem Gesicht zum Publikum zur Musik seiner Mitstreiter und agiert als ihr vertrautester Fan: „Bravo!“ ruft er nach dem offensichtlich improvisierten Schlagwerk-Part mit Schellenkranz zum Abschluss der „Wassermusik“ seiner Schlagzeugerin Isabelle Cornélis zu. Das 24-köpfige Ensemble wirkt wie ein vor Lebendigkeit sprühendes Gegenbeispiel zum absolutistisch regierten Orchester-Apparat.

Dabei kämpfte das Ensemble spürbar mit der Akustik, in der die Musiker einander bestenfalls schlecht hören. Im vorderen Rund saßen die scharf konturierenden Oboen und Fagotti. Bei klanglicher Motivation griffen ihre Spieler auch zu Blockflöten oder zum Blechblasinstrument Serpent. Hinter ihnen standen die eher weichzeichnenden Streicher, im Hintergrund die jeweils ventillosen Trompeten und Hörner. Hornspieler bezeichnen ihr Instrument als göttliches, weil Gott allein weiß, was rauskommt, wenn man reinbläst. Dass man an diesem Abend spürte, dass Musik eine höchst anspruchsvolle Kunst ist, in der auch mal was schiefgehen kann, war völlig in Ordnung. Zumal das Gesamterlebnis in hohem Maße überzeugte. Erhebender Rausschmeißer war Händels „Feuerwerksmusik“. Die Musiker von Le Concert Spirituel zeigten, wie ungeahnt gut diese strapazierte Musik tatsächlich ist.

DORIS KÖSTERKE
1.7.2021

Ensemblefassung von Xerrox 4 von Alva Noto

FRANKFURT, DRESDEN. „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“, findet der 1965 in Chemnitz geborene bildende Künstler Carsten Nicolai. Beim Zeichnen mit elektronischen Klängen nennt er sich Alva Noto. Das Ensemble Modern arbeitet, um sich durch kein orthodoxes Verhalten einzuschränken, immer wieder mit Künstlern von außerhalb der klassischen Musik zusammen. Frank Zappa ist das bekannteste, Alva Noto das jüngste Beispiel. Dafür hat es nach einer Partitur von Max Knoth die elektronischen Klänge von Alva Notos „Xerrox 4“ in instrumentale übersetzt. Die Uraufführung dieser Fassung wurde im Frankfurt LAB realisiert und im Synergie-Effekt der Festivals „Frankfurter Positionen 2021“ und „TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“ gestreamt.

Indem die Kameraführung immer wieder einzelne der hoch konzentrierten Musiker in den Fokus setzte, beschnitt sie notgedrungen die wohl auf ein ganzheitliches Erlebnis gerichteten Video-Projektionen und Lichteffekte. Alva Noto hat bei der Aufführung auch mitgewirkt. Was er von seinem elektronischen Pult alles steuerte, wurde nicht klar.

Der Name Xerrox 4

Der Name Xerrox 4 spielt einerseits auf das Vervielfältigungsverfahren der Xerografie an, hergeleitet aus ξηρός, trocken und γραφή, Schrift. Das doppelte R steht für „Error“. Kompositionstechnisch handelt es sich um einen Kopiervorgang mit eingebauten Fehlern, traditionell bezeichnet als entwickelnde Variation.

Zusammen mit einem Programmierer habe er „eine Software entwickelt, die einen Kopiervorgang ausführt mit einer ganz leichten Verschiebung der Auflösungszahl“, sagt Alva Noto im Interview mit Stefan Schickhaus. Es ist im Programmtext abgedruckt und diente hier als Steinbruch für Informationen und Zitate. „Eine CD zum Beispiel wird gesampelt mit einer Frequenz von 44,1 kHz und 16 Bit. Wenn man diese beiden Einstellungen leicht manipuliert, werden Informationen weggenommen“, sagt Noto. „Der Algorithmus denkt sich nun etwas aus, um die Lücken zu füllen. Und wird in gewisser Weise kreativ“. Mit ein wenig Übertreibung könnte man von künstlicher Intelligenz sprechen.

Im Fluss künstlicher Intelligenz

Der Reiz dieser Musik ist dem der Minimal Musik verwandt: Man kann sich dem runde 120 Minuten füllenden Fluss wie einem psychedelischen Rausch hingeben. Man kann auch versuchen, die erkannten Muster zur eigenen Orientierung zu charakterisieren. Aber bevor das gelingt, haben sie sich schon wieder verändert. Im Material klingen Klischees wie bebende Streicher-Vibrati, stummfilmdramatische Klavierdonner oder sphärisch gegeigte Vibraphonstäbe an. Doch auch sie verflüchtigen sich, kurz bevor sie auf die Nerven gehen. Gleiches gilt für einige Melodien. Die hatte Alva Noto früher vermieden. „Es ging ja um eine Negation dessen, was klassischerweise Musik ausmacht“, sagt er. Aber: „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“.

DORIS KÖSTERKE
17.4.2021

 

Zum Vergleich: Eine Elektronik-Fassung auf YouTube von Mikoto Urabe: https://www.last.fm/music/Alva+Noto/Xerrox,+Volume+4/+images/c1b602fbbc6b992fe3ec2481d5761b22.

Neue Musik Nacht 3.0 „so fern so nah“

 

FRANKFURT. Beständig wechselnde Corona-Regeln formulierten den kreativen Auftrag: Die Neue Musik Nacht 3.0 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) sollte auch in diesem Jahr stattfinden. Glücklich entdeckten die Macher eine interaktive Online-Plattform, auf der sich die Livestreams der Konzerte mit Online-Spielen und Zoom-Treffen, auch der Besucher untereinander, kombinieren ließen. …weiterlesen

„Klassik-Band“ Spark als Gast der Klosterkonzerte

 

FRANKFURT. Als Gast der „Klosterkonzerte“ zeigte das Ensemble Spark in seinem Programm „Be Baroque“, was gute Musik ist. Die fünf Musiker hatten sich 2007 zur „Klassik-Band“ Spark zusammengeschlossen, um Meisterwerke der Musikgeschichte so zu vermitteln, dass sie zünden, wie Rockmusik. Ohne Elektronik, ohne Showeffekte. Nur mit Blockflöten, Geige, Cello und Klavier. Vier Jahre später wurden sie mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet.

Bei ihrem Konzert im Karmeliterkloster begeisterten sie trotz erschwerter Bedingungen: Indem das Publikum ausgeschlossen blieb, fehlten nicht nur die „Dämpfer“ gegen die Überakustik im Refektorium. Ihr Musizierstil ist auf Blickkontakte mit dem Publikum ausgelegt, die beim Aufschaukeln von musikalischen Energien wie Katalysatoren wirken: Die Blockflötisten Andrea Ritter und Daniel Koschitzki und die Streicher Stefan Balazsovics (Geige) und Victor Plumettaz (Cello) spielen auswendig. Nur Pianist Christian Fritz hat Blätter vor sich, die eher Improvisations-Skizzen als Noten ähneln. Flötisten und Geiger agierten im Stehen. Das erfordert und steigert eine uneingeschränkte Präsenz und Vitalität.

Gute Musik braucht diese Präsenz und Energetik, aber auch hochwertige Substanz nebst ebenso hochwertiger „Rückverdünnung“: den Spielern muss durch und durch klar sein, was sie spielen und mit welchen Mitteln sie die Wiederbelebung durch die Interpretation vornehmen. Da machen es die Spark-Mitglieder wie Johann Sebastian Bach, der sich fremde Werke zu eigen machte, indem er sie bearbeitete. Noch heute empfehlen manche Kompositionslehrer das Abschreiben von Werken als erbarmungslos gründliche Methode, sich bei jeder Note zu fragen: warum hat der Komponist das so und nicht anders gemacht? Im Bearbeiten fremder Werke geht diese intensive Form der Aneignung noch einen Schritt weiter. Bach nahm ein Konzert von Vivaldi für vier Violinen und Cello (RV 580) und machte daraus sein Konzert in a-Moll BWV 1065 für vier Cembali. Wie Konzertveranstalter Thomas Rainer im parallelen Chat genau kommentierte, schöpften die beiden Spark-Blockflötisten Andrea Ritter und Daniel Koschitzki ihr Arrangement aus beiden Werken zugleich. Den Finalsatz vermittelte das Ensemble so perlend und blubbernd wie sprudelndes Wasser. Wie der Stuttgarter Komponist Sebastian Bartmann, von dem sie etwa „d minor“ spielten, erweitern auch sie das barocke Notengerüst mit Techniken der Minimal Musik, übertragen Techniken der elektronischen Musik wie Loops oder Arpeggiatoren auf akustische Instrumente zurück und lassen sich von Luciano Berio inspirieren. Hinzu kommen instrumentale Raffinessen, die etwa der Geigenkunst von Sinti und Roma entstammen. Und Songs der Beatles: In seinem Projekt „Beatles go Baroque” hatte Peter Breiner sie zu Concerti grossi im Bach-Stil verarbeitet. Aus ihnen spielte Spark „Michelle“ und „Help“. „Help“ auch mit der programmatischen Absicht, der von Corona-Maßnahmen gebeulten Musik zu helfen: Auch die Konzertagentur Allegra, die nicht nur etablierte Ensembles wie Spark einlädt, sondern ganz besonders auch jungen, noch unbekannten Künstlern Bühnenerfahrung ermöglicht, bangt um ihre Existenz. Auch, wenn sich aktuell über die Crowdfunding-Plattform „kulturMut“ noch genügend Unterstützer zusammengefunden haben, um wenigstens diese Konzertsaison noch zu ermöglichen.

DORIS KÖSTERKE
17.5.2021

weitere, ebenfalls durch Crowdfunding ermöglichte Konzerte am 27.06., 11.7. und 3.10.2021, jeweils um 17 Uhr.

 

Osthang – Ein Theatererlebnis mit Tiefenwirkung

DARMSTADT. Auf Waldboden gehend lauscht man den Klängen im „Osthang“: Über Monate hinweg hat Komponist Arne Gieshoff die Geräusche in dem kleinen Waldstück an der Mathildenhöhe aufgenommen: Wind, Vögel, knackende Äste, Schritte von Tieren und von Menschen im Schnee, im Nassen, auf trockenem Boden. Alle Klänge, die man auf diesem von Staatstheater Darmstadt in Auftrag gegebenen und realisierten „musiktheatralen Spaziergang“ hört, der jüngst Premiere hatte, sind aus diesen Feldaufnahmen abgeleitet. Gieshoff hat sie digital „unter die Lupe genommen“ und Aktionen für Sänger und Musiker daraus entwickelt. Die Klänge kommen zum Teil aus Lautsprechern, die über den gesamten Wald verteilt sind. Zum Teil werden sie während der Aufführung erzeugt. Man geht umher wie ein Flaneur, der ziellos mal das eine und das andere auf sich wirken lässt, wobei digital vermitteltes und analoges oft nicht zu unterscheiden sind: Mal sucht man vergeblich nach der gehörten Vogelschar, mal entdeckt man, dass die feinen Klänge aus dem Gebüsch kommen, in dem sich ein Kontrabassist versteckt. Die beteiligten Sänger können sich ihre Aktionen aus einem vom Komponisten erstellten Katalog auswählen. Sie singen nur selten. Mit der zelebrierten Neugier eines Forschers hält Tenor Michael Pegher das Mikrophon an Blätter und Gräser und Bariton David Pichlmaier macht die Rinde eines Baumes zum feinsinnigen Perkussionsinstrument. Zu allen Jahreszeiten, in denen das Projekt gereift ist, hat Fabio Stoll 360°-Videos vom Osthang gedreht. Über einen QR-Code kann man sie mit dem eigenen Smartphone aufrufen, um seine eigene Wahrnehmung im Sinne einer „augmented reality“ zu erweitern. Eins zeigt Kammersängerin Katrin Gerstenberger, wie sie mit einer Schildkröte in diesem Waldstück spazieren geht – eine Anspielung auf Walter Benjamins Bemerkung im „Passagenwerk“, Flaneure hätten sich zeitweilig ihr Gehtempo von einer von einer ausgeführten Schildkröte bestimmen lassen.

Die vom Komponisten angestrebte Entschleunigung, die die vielen Schichten des Augenblicks bewusst macht, wird durch die Regie von Franziska Angerer verstärkt. Für beide war es eine Reise ins Unbekannte, beide äußern sich „selber überrascht“. Diese Entdeckerfreude überträgt sich: Man hat nicht das Gefühl, etwas verstehen zu müssen. Der Fokus liegt nicht auf einer Bühne, sondern auf der eigenen Wahrnehmung. Wobei es sich trotzdem lohnt, mit den Künstlern zu sprechen, die zwischen den Besuchern umherschlendern, etwa mit Olivia Rosendorfer, deren Kostüme Kleidungsstile aus fünf Jahrhunderten mit einer „Gender-Fluidität“ verbinden.

Man erfährt auch von der Zusammenarbeit mit dem Kollektiv von jungen Kreativen, das in diesem Waldstück in Nachbarschaft zum Jugendstil mit eigenen künstlerischen Utopien experimentiert. Und dass das Motto „Komm ins Offene“ auch dazu ermutigen will, nicht alles gleich in hermeneutisch beschriftete Schubkästchen zu sortieren: Nur die eigene, lebendige, nach allen Seiten offene Wahrnehmung kann einem sagen, was man mit seinen Mitteln tun kann, um diese Welt lebenswert zu halten. Geistiger Vater dieser „Allaufmerksamkeit“ war John Cage, der in einer historischen Aufnahme dieses Theatererlebnis durchtönt.

DORIS KÖSTERKE
3.6.21

 

Weitere Vorstellungen am 29. Juni, jeweils um 19 und um 20 Uhr. Eingang: Olbrichstr. 19.

 

Bei allzu schlechtem Wetter muss die Vorstellung ausfallen. In Zweifelsfällen kann man am Vorstellungstag ab 17 Uhr unter 06151-2811863 nachfragen.