»Drammaturgia« und Lucia Ronchetti

 

Der Flügel ist ohne Deckel. Auf seinen Tasten hämmert Ueli Wiget. Wie Beethoven, virtuos vom Lockenschopf bis zum Idiom des Gehämmerten. Als zwei Weißkittel mit OP-Masken beugen sich die Schlagzeuger David Haller und Rainer Römer über das Innere des Flügels. Wie zu einer Diagnose klopfen sie hier, dämpfen da, fügen dem rhythmischen Hämmern des Pianisten Glissandi und Obertongebilde zu. „Cartilago auris, magna et irregulariter formata“ heißt das 2019 geschriebene Stück von Lucia Ronchetti. Es eröffnete das jüngste Werkstattkonzert »Happy New Ears« des Ensemble Modern in der Oper Frankfurt, das der 1963 geborenen Komponistin gewidmet war. Zu dem Stück inspiriert hatte sie der Obduktionsbericht von Beethovens Ohr, auf Lateinisch verfasst von Johann Wagner und Carl von Rokitansky am 27. März 1827. Titelgebend war der Satz, die Ohrmuschel sei groß und ungleichmäßig geformt. Unter dem Eindruck der quirligen Komponistin, die zum Gespräch mit Konrad Kuhn über Zoom aus Rom zugeschaltet war, sah man den Flügel als Ohrmuschel an, deren oberer Rand, wohl ebenso frühkindlich, wie Beethovens nie verheilte Mittelohrentzündung, einem Friseurbesuch zum Opfer gefallen war.

Ein Feuerwerk der Assoziationen, das sie kompositorisch auf vielen Ebenen zu einem Ganzen verzwirnt, erscheint als ein Markenzeichen der 1963 geborenen Komponistin. Stilsicher parodiert sie  etwa Beethoven im ersten Stück dieses Abends oder neapolitanische Marktschreier im dritten, Rosso Pompeiano (2010). Darin kamen Bratscherin Megumi Kasakawa und Klarinettist Jaan Bossier der folkloristischen Klangwelt sehr nahe, während die Parts der anderen Beteiligten noch ein wenig hölzern wirkten.

Bedingt durch Abstandsregeln auf der Bühne musste das Hauptwerk des Abends, Le Palais du silence (2013) umgeschrieben werden. Ein gleichnamiges Werk hatte Debussy geplant, aber nicht mehr realisieren können. Die Uraufführung der von 16 auf zwölf Musiker kondensierten Fassung ließ das Vorbild Debussy ebenso erkennen, wie die durch das IRCAM-Studium optimierte Fähigkeit der Komponistin, Naturgeräusche auf Instrumenten nachzubilden, wie auffrischende Windböen in „Le vent dans la plaine“ oder die fiktive Akustik einer im Wasser versunkenen Kathedrale in „La cathédrale engloutie“, vermittelt von mit Gaze verhüllten Streichinstrumenten und geblasenen Flaschen. „Die Flaschen sind gut gestimmt“, lobte Dirigent Peter Tilling, der den Ausklang von „Jardins sous la Pluie“ am Klavier bestritt: mit hochkonzentrierter Substanz im äußersten Pianissimo. Wie viele ihrer Werke bezeichnet Ronchetti auch dieses im Untertitel als »Drammaturgia«, als Theater, das sich allein in der szenisch aufgeführten Musik abspielt.

DORIS KÖSTERKE
4. Juni 2020

 

Das Konzert wurde aufgezeichnet und kann über https://www.ensemble-modern.com/de/projekte/aktuell/on-air-2020 abgerufen werden.

Die Uraufführung ihrer für Frankfurt geschriebenen Oper „Inferno“ ist Corona-bedingt auf das kommende Jahr verschoben.