Carsten Ludwig und Martin Mayes schufen für das derzeit noch unsanierte Festspielhaus Hellerau ihr SchubertEcho (1998), ein museal-kulinarisches Stück Musiktheater, das in mir auch heute noch unter der Haut in allen Sinnen nachhallt.
Das Echo von Hellerau
DRESDEN. Ein Mensch mag im Leben gewisse Chancen haben, sich nicht an der Rolle der Behinderten, des Ausländers oder „der“ Frau reiben zu müssen. Aber jeder, der nicht vorher stirbt, wird einmal alt. Wie das Altwerden sich gerade für Musiker anfühlt, hat Mauricio Kagels aus atem (1969/70) gezeigt. Weil Kunst aber auch helfen kann, sich in diese Rolle hineinzufinden, bekam das SchubertEcho, ein museal-kulinarisches Musiktheaterstück von Carsten Ludwig und Martin Mayes im Festspielhaus Hellerau bei Dresden, den Ersten Trude-Unruh-Preis der Grauen Panther.
Schuberts Winterreise nach Texten von Wilhelm Müller setzte den musikalischen und inhaltlichen Rahmen. „Museal“ war die von Ulrike Gärtner im Foyer installierte Ausstellung von Dokumenten aus dem Leben und Wirken jener (Ex-)Sängerinnen und Sänger der Dresdner Semperoper, die sich in dieser Inszenierung mit der Todessehnsucht des jungen Wanderers in Schuberts auseinandersetzten.
Durchschlagender Grundton
Als der schottische Hornist Martin Mayes ihm mit der Idee kam, Schuberts „Winterreise“ eins Theaterprojekt zu machen, wand Carsten Ludwig sich vor diesem Kassenschlager der Klassikvermarktung, bis eine musikalische Besonderheit des Schubert-Werkes den Aufhänger für seine Inszenierung bildete: die Betonung des Grundtons gegenüber dem wilden Wuchern der Harmonie. — “Ich dachte: ein künstlerischer Perfektionismus feilt doch in erster Linie an den Obertönen, im übertragenen Sinne: an der Fassade. Aber wenn Künstler älter werden, denn muß doch eigentlich der Grundton durchschlagen!” — So beschloß er, mit Sängern zu arbeiten, die nicht mehr genügend Zugriff zu ihrer Stimme haben, um künstlerische Eitelkeiten polieren zu können, deren lebenslang kultivierte Musikalität, Gespür für künstlerische Substanz und darstellerisches Geschick jedoch so entwickelte sind wie nie zuvor. — Faktisch begann da für Carsten Ludwig eine Gratwanderung durch das Gefühl der alternden Darsteller, ihren körperlichen Verfall präsentieren zu sollen.
Um die in Schuberts Liedern wohnende Melancholie nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, hat Martin Mayes bei seiner Bearbeitung des Schubertschen Notentextes für ein Instrumentalquartett die Rhythmen bisweilen so verändert, daß sie ihn an die ländlichen Tanzveranstaltungen seiner italienischen Wahlheimat erinnerten, die vornehmlich von Senioren besucht werden. Für den Saxophonisten Roberto Regis war „ballo liscio“ ein Register, das er unmittlebar zu ziehen wußte. Horn, Tuba und Kontrabaß lieferten eine klampfenartig Begleitung, und der geschmeidigen Fröhlichkeit, die die Musiker im so veränderten und des Textes entledigten Einganslied verbreiteten, konnte man sich bei bestem Unwillen nicht entziehen. Den Fußboden des 1912 für die Wiege des Ausdruckstanzes erbauten Festspielhauses, bei dem erstmals die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben war, hatte Carsten Ludwig mit echten Grasplaggen ausgelegt. Der frische Duft und das Gefühl unter den Füßen waren ebenfalls tragende, lebenbejahenden Momente des Projektes.
Die Besucher fanden an langen Tischen Platz, die mit Brot, Wein und Suppentellern eingedeckt waren. Auf einem schräg den Aufführungsraum durchziehenden Podest waren mehrere Küchen-Einheiten in einer Reihe aufgestellt. Frisches Gemüse prangte auf Arbeitsflächen und Regalen und roch lecker. Mehr als zwanzig Sängerinnen und Sänger im Alter von kurz vor der Pensionierung bis über achtzig widmeten sich heiter der Küchenarbeit: putzten Gemüse oder die Frontflächen der Herde, spülten Geschirr oder trockneten ab. Dazu ließen sie die Lieder Revue passieren, die Eckehard Mayer in Abstimmung mit Mayes’ Instrumentalpartien in spannungsvollen Wechseln zwischen melodramatischem Sprechen, Solo, Ensemble- und Chorgesang arrangiert hatte.
Mit bewundernswerten Technik und in luftiger Höhe aufgehängter Strahlkraft ihrer Stimme sang die 66-jährige Eleonore Elstermann das Lied Gefrorne Tränen, als sei das Weinen längst nicht so wichtig zu nehmen, wie der Zauber der Leidenschaft, die es hervorgebracht hatte. Durch ein von den Instrumentalisten improvisiertes Dickicht bahnte sich ein einstimmiger Chor den Weg zum Brunnen vor dem Tore.
Schelmische Distanzierung
Martin Mayes hatte in Schuberts Reduktionismen geradezu Webensche Qualitäten gesehen. Aus der Perspektive des Nachgeborenen dünnte er den Satz noch weiter aus, bis etwas zum Tragen kam, das im Wesentlichen nicht notierbar ist und was sich mit dem schwammigen Begriff der musikalischen Energie nur ebenso vage fassen läßt, wie „die“ künstlerische Substanz der Winterreise, um die es Carsten Ludwig ging. — Was Carsten Ludwig vorschwebte, schien sich am stärksten zu konkretisieren, als die 84jährige Elly Gröpler-Holst in einer Mischung von Anteilnahme und schelmischer Distanzierung den Text der Rast sprach. Im Instrumentalquartett konnten Differenzen in der energetischen Feinabstimmung zwischen dem rund miteinander harmonierenden Bläsertrio und dem kurzfristig eingesprungenen Kontrabassisten sich auswirken, als wellte sich unter einem feinmechanisch austarierten perpetuum mobile der Fußboden. Aber grundsätzlich war es Martin Mayes in seiner Bearbeitung gelungen, die reine Kraft der Melodien in einer Weise herauszudestilieren, die den Weltschmerz wie aus bewältigten Fernen duchschimmern ließ.
Die Post brachte auch in Hellerau nicht den ersehnten Brief. Statt dessen brachten „die Alten“ den Besuchern die mit dem auf der Bühne geputzten Gemüse angereicherte Suppe. Junge und Alte, die einander zuvor nie gesehen hatten, begriffen sich als Tischgemeinschaft, einer füllte allen die Teller, man reichte den Brotkorb herum und kam miteinander ins Gespräch. Nur eine Plane deckt die berühmte Ludwig-Kroher-Dachkonstruktion über dem 1912 von Heinrich Tessenow erbauten Monumentalgebäude. Tauben sendenFlugobjekte von unterschiedlicher Konsistenz nach unten. Dann und wann verläßt ein Stück Putz die überhohen Wände, deren Morbidität sie nun ganz „menschlich“ erscheinen lässt.
Inzwischen hatten „die Alten“ das Geschirr gespült, die Kochstellen gereinigt und alles geputzt. Gegen Ende der Nebensonnen wurden Nessellaken ausgebreitet, unter denen die Konturen der Küchenmöbel an das Kühlhaus der Pathologie erinnerten. Der noch in der vollen Blüte seiner Kunst stehende Bariton Jürgen Hartfiel sang den Leiermann. „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?“ schillerte in unendlich vielen Dimensionen.
Das SchubertEcho von Hellerau zeigte, was über die Abgründe des jungen wie des alten Lebens hinwegtragen kann. Der Geruch von frischem Gras, die Kraft der Melodien und ein mit dem Alter wachsender Humor gehören dazu.
Doris Kösterke
Frankfurter Rundschau 27-06-1998