Paul Giger im „Höchster Schlossplatz 1“
(11.03.2016)
Von Doris Kösterke
„In diesem wunderbaren Gewölbe, bei diesem wunderbaren Menschen“ machte Paul Giger etwas, was er noch nie getan hat: er erweiterte sein Konzert mit Worten.
Vor allem machte er Musik. Allein mit seiner Geige, oder mit dem von ihm entwickelten „violino d’amore“, bei dem fünf Saiten über das Griffbrett laufen, unter dem noch sechs Resonanzsaiten schwingen. Aber dazwischen würdigte er den „Höchster Schlossplatz 1“, las Gedichte des St. Galler Schriftstellers Joseph Kopf (1929-1979) und erzählte von seiner Suche nach dem, was ihn heute ausmacht:
Mit acht Jahren hatte er Geigenunterricht bekommen und mit 14 damit aufgehört, um nach eigener Art zu fiddeln, zu rocken, zu trommeln und zu improvisieren. Seine wichtigsten Erkenntnisse sammelte er als Straßenmusiker in Asien: „Als Straßenmusiker“, erzählte Giger, „muss man unter schlechtesten Bedingungen die Leute fesseln“. Mit dem Fesseln begann Giger an diesem Abend jeweils so leise, dass man ihm innerlich ein Stück entgegenging. Und schon war man seinem Sog erlegen: Aus einem scheinbar zufälligen, geräuschnahen Nebel hörte man eine Tanz-ähnliche Rhythmik oder eine ätherische Melodie sich herausschälen, deren Entwicklung man dermaßen neugierig verfolgte, dass man Zeit und Raum vergaß.
Ein wesentlicher Reiz von Gigers Tonsprache liegt in seiner Vorliebe für Flageolets, für jene pastellfarbenen Geigentöne, die nicht durch festes Greifen, sondern durch loses Auflegen der Finger an den physikalischen Schwingungsknoten der Saite gebildet werden und deren Intonation oft wesentlich vom „temperierten“ westlichen System abweicht. Diese Vorliebe mag durch Gigers frühen Kontakt mit indischer Musik begründet sein. Giger betonte, dass sich die Zahlenverhältnisse der Obertöne überall in der Natur wiederfänden, auch im Menschen, bis zum Rhythmus des Atmens. In der Tat fühlte man sich beim Hören seiner Musik, als würde man wie ein Instrument gestimmt.
Giger konzertierte bereits zum vierten Mal in diesem 1591 erbauten Haus, das der Fotokünstler Jürgen Wiesner nach den gleichen Prinzipien saniert hat, nach denen er seine Bilder macht: indem er Gefundenes behutsam ins Licht rückt. Musiker wie Giger kommen um der Atmosphäre und der Akustik willen. Wie stark der Raum mitspielt, zeigte Giger in seinem Stück „Karma Shadub“ (tibetisch für „tanzender Stern“), als er spielend durch den Raum und die Treppe hinauf ins obere Gewölbe schritt.
Nicht zuletzt beeindruckte Giger durch die Präzision, mit der er die Quellen seiner Inspiration untersuchte, sei dies ein rund tausend Jahre alter Tropus aus dem Kloster St. Gallen, oder der verborgene Rhythmus in dem Weg, den Pilger in der Kathedrale zu Chartres nehmen, oder die Frage, wie sich das Volk der Tibeter unter chinesischer Besatzung fühlt. Um letzteres zu zeigen, spielte er Bachs „Gavotte en rondeau“ zunächst so mitreißend, dass man sich mehr davon gewünscht hätte. Doch er brach ab, verstimmte die zweithöchste Saite seiner Geige um einen Ton nach unten und spielte das Stück noch einmal. Das Resultat war erschütternd. Etwa so, als erlebte man ein Deutschland voller Menschen und Straßen, aber ohne Kultur.