Darmstadt. Gustav Mahler wollte die um 22 Jahre jüngere Alma Schindler (1879-1964) nur heiraten, wenn sie aufhörte zu komponieren. Der Schritt fiel ihr schwer. Denn in ihrer Studienzeit bei Alexander Zemlinsky hatte sie unter anderem bereits über hundert Lieder geschrieben. Als Gustav Mahler nach acht Ehejahren dann doch einmal eine Arbeitsmappe seiner Frau in die Hand bekam, setzte er sich selbst für den Druck und die Aufführung einiger dieser Lieder ein. Insgesamt haben 17 Lieder von Alma Mahler überlebt. Der Rest ist ebenso verschollen, wie ihre anderen Kompositionen. In der Reihe „Unerhört“ am Staatstheater Darmstadt werden Mezzosopranistin Solgerd Isalv und Pianist Jan Croonenbroeck 14 dieser Lieder am kommenden Samstag aufführen.
„Theater muss eine Vorreiterrolle spielen“
Die Reihe wurde von Operndirektorin Kirsten Uttendorf und Dramaturgin Isabelle Becker ins Leben gerufen. In einem Telefon-Interview ließen beide spüren, dass wie wichtig ihnen diese Reihe ist. Beim Spielzeitmotto „Was fehlt“ waren beide sich einig: Komponistinnen! „Theater muss eine Vorreiterrolle spielen und zeigen, dass ein System auch anders funktionieren kann“, sagt Kirsten Uttendorf. „Wir haben selbst gemerkt, dass wir viele Komponistinnen noch nicht kennen und kennenlernen wollen. Den Sängern und Pianisten aus unserem Ensemble ging es genauso. Sie haben sich als Paten und Patinnen für jeweils eine Komponistin zusammengefunden, setzen sich intensiv mit deren Werk und Biographie auseinander und gestalten daraus einen Abend“. Besonders schön ist es für Uttendorf, wenn Ensemblemitglieder bei ihr anrufen und sagen: „Ich hab noch eine interessante Komponistin gefunden!“.
Biographische Brüche – damals wie heute
Das Interesse an dieser Reihe ist überwältigend. Zumal die Punkte, an denen eine vielversprechende Künstlerlaufbahn zerbricht, an denen der große Wurf mit einem groß angelegten Werk nicht gelingt, heute noch ähnlich sind.
Von der schönsten Frau Wiens zur Trinkerin
Alma Mahler galt einmal als die schönste Frau Wiens. Neben ihren Ehen mit Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel hatte sie unübersichtlich viele Affären mit Künstlern ihrer Zeit. „Sie war von ihrem eigenen Wert überzeugt und hat die Reibung gesucht mit Künstlern, von denen sie das Gefühl hatte, das sind hier ebenbürtige Menschen, mit denen möchte ich in eine künstlerische Auseinandersetzung gehen“, sagte Uttendorf. „Auf der anderen Seite hat sie die Künstler, für die sie sich begeisterte, auch sehr inspiriert“. Die volle Erfüllung schien sie darin nicht gefunden zu haben. Schriftstellerin Claire Goll schrieb über die alternde Alma Mahler, von Thomas Mann „La grande veuve“ genannt: „Diese aufgequollene Walküre trank wie ein Loch“.
Sie war die Mutter jener Manon Gropius, der Alban Berg sein Violinkonzerte „Dem Andenken eines Engels“ widmete. Den Tod eines der beiden Kinder, die sie mit Gustav Mahler hatte, brachte sie mit dessen kurz zuvor geschriebenen „Kindertotenliedern“ in Verbindung. Von ihren vier ausgetragenen Kindern hat nur Anna Mahler sie überlebt.
Lieder von Alma Mahler in der Reihe „Unerhört“ am Darmstädter Staatstheater
In den frühen Liedern sieht Kirsten Uttendorf eine „gute Qualität, sehr dicht komponiert, auf sehr starke Texte“, etwa von Rilke, Dehmel, Heine. „Sie gehen sehr unter die Haut“. Isabelle Becker bezeichnet sie als spätromantisch-impressionistisch, wobei beide betonen, dass die Einflüsse von Schönberg und Berg ja erst nach ihrer Ehe, nach dem Ende ihres Komponierens, auf sie gewirkt haben und eine mögliche Entwicklung nicht absehbar ist.
Rund 1900 unerhörte Komponistinnen
„Von den rund 1900 Komponistinnen, die belegt sind, haben wir in dieser Spielzeit gerade mal eine Handvoll abgearbeitet“, sagt Becker. Aber immerhin! Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. „Wahrscheinlich können wir die Reihe unendlich fortsetzen, weil es unendlich viele vergessene Komponistinnen gibt, die vergessen sind oder auch heutige Komponistinnen, die man fördern muss“, sagt Uttendorf.
Dafür arbeiten sie zunehmend mit dem Archiv für Frau und Musik in Frankfurt und mit Musikwissenschaftlerinnen zusammen, die sich auf einzelne Komponistinnen spezialisiert haben.
Männlich oder weiblich – was sagt es aus?
Am 7. Mai stellen Sopranistin Jana Baumeister und Pianistin Irina Skhirtladze die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdi, Fanny Hensel vor. Am 10. April machen Sopranistin Cathrin Lange und Pianistin Elena Postumi mit Cécile Chaminade bekannt, über die ihr Zeitgenosse Ambroise Thomas sagte: „Dies ist keine komponierende Frau, sondern ein Komponist, der eine Frau ist.“ Umgekehrt, gibt Kirsten Uttendorf zu bedenken, wird die Musik von Jules Massenet, Komponist etwa des Don Quichote, oft „weiblich“ genannt, weil er sehr sentimental und melodramatisch komponiert hat.
In der jüngeren Generation werden die Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ ohnehin als fließend gesehen. Isabelle Becker spricht von der „Evolution eines sozialen Geschlechts“, dem biologische Gegebenheiten gleichgültig sind. „Vielleicht schaffen wir es irgendwann, genderneutral zu argumentieren“, meint sie. Dann geht es nicht mehr um zufällige biologische Geschlechter von Urhebern, sondern nur noch um gute Musik.
DORIS KÖSTERKE
7.3.2022