Tänzerisches Klangbad mit Alessandro De Marchi

“Das meiste, was Sie von mir hören werden, steht nicht in den Noten. Zur Barockzeit wurden höchstens zehn Prozent der Musik notiert, der Rest improvisiert“, erzählte Alessandro De Marchi, leitender Cembalist und Dirigent des Abends, im Einführungsgespräch zum 6. Sinfoniekonzert („WIR6“) des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden im Friedrich-von-Thiersch-Saal. Ursprünglich habe er Jazz- oder Rockmusiker hatte wollen, erzählte er im Podiumsgespräch mit Dramaturgin Katja Leclerc. Im Stellenwert der Improvisation meinte man den Jazz-spezifischen Teil seines ursprünglichen Berufswunsches wiederzuerkennen, den Rock-spezifischen in der voraussetzungslosen Zugänglichkeit seiner Musik, wie man sie an diesem Abend erlebte. Mit Blick auf die so ganz andere Aufstellung der Musiker auf der Bühne verglich er die beiden aneinander gegenüberstehenden Cembali (am rechten saß er selbst, am linken Tim Hawken) samt der beiden sie umgebenden „Bands“ aus Celli, Kontrabässen und Fagotti als „Rhythmusgruppe“. Im Bühnenhintergrund agierten Geiger und Bratscher im Stehen. Normalerweise bewirkt dies eine sehr viel zupackendere Musizierhaltung, aber an diesem Abend wirkten viele der Streicher vom langen Stehen eher gequält und ihre Musizierhaltung eher befolgend als erfüllt. Umso engagierter legte sich die aus dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester entliehene Geigerin Gesine Kalbhenn-Rzepka als (im Programmheft nicht genannte) Konzertmeisterin mit reichen Ausschmückungen ihrer Partien ins Zeug, gefolgt vom orchestereigenen Zweiten Geiger Sebastian Max. Mit sachdienlichen Improvisationen in oft tragenden Rollen erfreuten die beiden hervorragenden Oboisten des Orchesters, Bernhard Schnieder und Franz-Josef Wahle. In der Suite aus der Oper »Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron« (1710) des Hamburger Musiktheoretikers, Komponisten und Diplomaten Johann Mattheson (1681-1764) mischten sich die beiden hoch engagierten, eigens für diesen Abend engagierten Blockflöterinnen, Alexandra Kraus und Sabine Ambos, mit reichen eigenen Ausschmückungen ins Klangbild der Bläser. Von allen an diesem Abend gespielten Werken schien Matthesons am ausführlichsten geprobt worden zu sein. Seine mitreißende Wirkung illustrierte die Musikanschauung seines Urhebers, der fand, Musik solle weniger Gott als den Menschen gefallen.

Roter Faden des Programms war jedoch Georg Philipp Telemann, dessen eingangs gespielte Orchestersuite »La Bourse« im Schlusssatz das Abwärtspurzeln der Mississippi-Aktienkurse im Jahre 1720 sinnfällig macht. Er war mit Mattheson befreundet, mit Georg Friedrich Händel (an diesem Abend vertreten durch sein Concerto grosso op. 3 Nr. 2), mit Johann Sebastian Bach, dessen Vierte Orchestersuite BWV 1069 als das kompositorisch hochwertigste Werk des Abends empfand und Patenonkel von dessen Sohn Carl Philipp Emanuel, dessen Sinfonie Nr. 3 C-Dur mit herben Dissonanzen und Überraschungsmomenten erfrischte.

DORIS KÖSTERKE