Die fein eingefädelten hohen Töne der Sopranistin Anja Pöche sang die Flörsheimer St.-Gallus-Kirche spontan mit. Um noch mehr Resonanzen zu locken, wechselten die fünf Sänger des Calmus Ensembles ihre Aufführungsorte innerhalb der Kirche. So, als entspräche der Mittelgang den Saiten eines Instruments, die man nah am Steg, davon entfernt oder auch dahinter zum Klingen bringen kann. Zweimal bewegten sie sich und ihre Klänge auch ganz frei im Raum, der sie vervielfachte, als sänge darin ein ganzer Chor.
Der Kirchenraum als Instrument
„Klangreise“ hatte das in Leipzig beheimatete Ensemble sein Programm überschrieben. Der erste Teil kreiste über sechs Jahrhunderte geistlicher A-Capella-Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) zu John Taverner (1944-2013), über Heinrich Schütz (1585-1672) und Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901), der den „Palestrina-Stil“ mit der Harmonik seiner Zeit erweiterte. Besonders wirkungsvoll erlebte man dies in der Motette Sederunt Principes (nach Psalm 118): herbe Dissonanzen schildern, wie weltliche Herrscher über den Singenden richten. In seinem Gebet wandeln sie sich in himmlischen Schönklang. Bei John Taverner werden die Klänge noch weiter aufgefächert. Sein Cradle Song über eine weinende Mutter, die in das „göttliche“ Lächeln ihres schlafenden Kindes sieht, schuf Gänsehaut mit sauber intonierten Reibungen. Die sensationelle Textverständlichkeit und hohe Klangkultur des Ensembles prägte auch den zweiten Teil des Konzerts mit Bearbeitungen von weltlichen Liedern aus aller Welt.
Das sich erneuernde Calmus Ensemble
Das 1999 von fünf ehemaligen Thomanern gegründete Ensemble ist mittlerweile bis auf den Bariton Ludwig Böhme runderneuert: Anja Pöche, geborene Lipfert, wurde im Kinderchor des MDR geprägt. Tenor Tobias Pöche, im Dresdner Kreuzchor groß geworden, wird Calmus demnächst wieder verlassen, zwecks Kindererziehung. Die jüngsten Neuzugänge könnten mit zunehmendem Alter noch mehr Strahlkraft entwickeln: Bass Manuel Helmeke, der mit schwarzem Timbre und schelmischem Blick bestach. Und der 1992 geborene Altus Stefan Kahle: An diesem Abend schien er klingend noch nicht zu seiner Größe stehen zu wollen.
Tetris-Fuge
Alle Sänger bewiesen einen Riesen-Schuss Humor: Wer je den Computerspiel-Klassiker Tetris gespielt (oder jemandem dabei zugehört) hat, kennt das russische Lied Korobeiniki, das, wie das Spiel, immer schneller und schneller wird. Calmus-Urgestein Ludwig Böhme hat für sein Ensemble eine Fuge daraus komponiert. Ihre Einsätze purzeln so unvorhergesehen wie die Figuren im Spiel. Gegen den Höhepunkt fugaler Verflechtungen werfen die Sänger sehr gekonnt auch die Geräusche des Spiels mit ins Klangbild. – Man liebt dieses Ensemble für seine Kombination aus hohem traditionellen Können, ernster Spiritualität und herzhaft zelebriertem Quatsch.
DORIS KÖSTERKE
12.05.2019