Schlemmerklänge: Orchestre National de Belgique

 

Im Wallen und Wogen der Klänge zu Beginn von Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre, im An- und Abschwellen der Phrasen, im Heranrollen und Abebben der Energien spürte man den sinnlichen Charakter des Orchestre National de Belgique. Die „Burghofspiele im Rheingau“ präsentierten den Klangkörper in großer symphonischer Besetzung im ausverkauften Friedrich-von-Thiersch-Saal im Wiesbadener Kurhaus. Viel lag am Dirigenten Ion Marin, aber zumindest ebenso viel an den Musikern. Ihr Umgang mit Musik scheint nicht zuletzt an ihren zahlreichen filmmusikalischen Projekten dahingehend gereift, dass sie die klassischen Werke durch Mittel der Unterhaltungsmusik durchwirken und plastisch machen.

Über kleine intonatorische Trübungen, etwa in der Stretta, hörte man gern hinweg: technischer Perfektionismus, wie ihn die Musikindustrie fördert, tut einer aus dem jeweiligen Moment heraus entstehenden Musik nicht gut.

Esther Yoo spielt Mendelssohns Violinkonzert

Im Zentrum stand „das“ Violinkonzert (ein Frühwerk in d-Moll hatte der Komponist verworfen) von Mendelssohn. Solistin war die mit dem Orchester spürbar bestens vertraute Esther Yoo. Das ganze Werk wirkte wie ein einziges dramatisches Zwiegespräch zwischen der Geigerin und dem Orchester, bei dem beide Teile bisweilen vor Intensität bebten. Selbstverständlich glänzte die gebürtige Amerikanerin mit ihrer Virtuosität und ihre sauberen, von einer nach hinten geneigten Körperhaltung unterstrichenen Spitzentöne waren allumfassende Glücksmomente. Aber wohltuender Weise war dies kein Selbstzweck: Vielsagend schien diese Musik die erbitterten Diskussionen dieser Tage, die offenen wie die versteckten, nachzuzeichnen und auf eine abstrakte Ebene zu heben. Schon im Schlusston begannen begeisterter Applaus und Bravorufe. Nach Esther Yoos Zugabe, einer nachdenklich fragend gespielten Sarabande d-Moll aus Bachs Zweiter Partita für Violine solo BWV 1004, bewies das Publikum mehr Sensibilität.

Beethovens Siebte

Nach diesen wirklich erfüllenden Werken hätte der Abend gern zu Ende sein dürfen, um im Rest des Abends färbend nachzuhallen. So ließ sich kaum objektiv beurteilen, ob die abschließende Siebte Sinfonie von Beethoven von den Interpreten weniger detailfreudig durchdrungen war, oder ob lediglich die eigene Konzentration nachgelassen hatte, um nur in einzelnen Momenten wieder aufzuflammen: etwa im anfänglichen Dialog zwischen Oboe und Orchester, in dem beide Partner sich mit einer Intensität belauerten, die zu Luft anhaltender Stagnation führten. Und natürlich immer wieder im Gegeneinander-Wogen und in den lebhaften Schlagabtäuschen der Klanggruppen. Insgesamt bot dieser Abend eine erfüllende Antithese zum hysterischen Weihnachtsgebimmel.

DORIS KÖSTERKE
28.12.2019