Klavierabend András Schiff

Abschiede aus vier Jahrhunderten

 

 

Für so ein Konzert lohnt es sich, zu leben: Das Musikfest-Motto zum „Fremd … zieh ich wieder aus“ weiterdenkend, spannte Sir András Schiff in seinem Klavierabend im Großen Saal der Alten Oper einen Bogen über vier Jahrhunderte zum Thema Abschied. Als Referenz an den einladenden Verein Frankfurter Bachkonzerte begann er mit dem Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo B-Dur BWV 992. Dabei bohrte er sich nicht an Details fest, sondern gab ihnen aus seinem großen Überblick heraus einen neuen Sinn: statt auf der herzzerreißenden “Bleib-doch-da”-Chromatik herumzureiten, lenkte er den Blick auf die psychologische Selbstheilung des vom Schicksal nicht eben verwöhnten 21-jährigen Johann Sebastian Bach, indem der neben dem echten Schmerz auch zeigte, wie man ihn durch schöpferische Verarbeitung überwindet.

In Ludwig van Beethovens sehr persönlicher “Lebewohl” Sonate Nr. 26 Es-Dur op. 81a zeigte Sir András Schiff seine Größe unter anderem darin, dass er die Exposition des ersten Satzes bei der Wiederholung völlig anders und sehr viel differenzierter beleuchtete. Als erster Höhepunkt vor dem ersten zugelassenen Applaus zeigte er seine über alle pianistischen Probleme erhabene Musikantik in der einzigen Klaviersonate von Béla Bartók. Mit ihr hatte der Komponist, zwei Jahre nach seinem grundlegenden Werk „Das ungarische Volkslied“, seiner klassisch orientierten Pianistenkarriere “Lebewohl” gesagt. Auch von dem übermäßig selbstkritischen Leoš Janáček ist nur eine einzige Klaviersonate überliefert: Die „Sonate 1.X.1905“ verewigt das Datum einer Demonstration für eine Tschechische Universität, die von deutschen Besatzern blutig niedergeschlagen wurde.

Von Franz Schubert, als Leitfigur des Musikfestes, beschloss die in seinem Todesjahr entstandene, posthum veröffentlichte Sonate c-Moll das Konzert. Auch hier gliederte Schiff sinnstiftend mit ausführlich ausgekosteter Agogik, arbeitete mit dem symphonischen Klang des Bösendorfer-Flügels über die Binnenspannung der Mittelstimmen das Nebeneinander von düstrer Todesgewissheit und der Transzendenz lichter Melodien heraus.

Die erste Zugabe, Präludium und Fuge C-Dur BWV 846, verhieß nach dem Abschied einen Neuanfang über „Das Wohltemperierte Klavier“ hinaus. Die zweite war die Gavotte aus BWV 811, die dritte, mit herausgestellter stabilisierender Mittelstimme, die Ungarische Melodie D. 817. Hätte Schubert sich träumen lassen, wie intensiv er auch nach 189 Jahren noch weiterlebt?

DORIS KÖSTERKE