FAKE (REAL) BOOK im Frankfurt LAB

 

FRANKFURT. „Kommt rein! Sucht euch einen Platz!“ animierte das Wesen im bunten Tutu. Die Gekommenen reagierten überwiegend ratlos: Dicke schwarze Vorhänge durchzogen die große Halle im Frankfurt LAB. Hier und da platzierte Gegenstände verhießen eine spätere Aktion. Doch ein Überblick über das Ganze war durch die Vorhänge verwehrt, die aufgestellten Stühle erschienen ausnahmslos als Plätze mit Sichtbehinderung.

Fake News und „Wahrheit“

Über Assoziationen des Titels „FAKE (REAL) BOOK“ mit Fake News und „Wahrheit“ fühlte man sich wie einer der legendären Blinden, die einen Elefanten betasten und dabei je nach Standpunkt, am Stoßzahn, am Schwanz, am Rüssel, an einem Bein, am Ohr oder unterm Bauch, auf durchaus wahrhaftigem Wege zu unvereinbar verschiedenen Aussagen darüber gelangen, wie ein Elefant sei.

Dabei war „The Alvin Curran Fakebook“, auf dem diese Gemeinschaftsproduktion von Ensemble Modern und Hessischer Theaterakademie, dem Regisseur Paul Norman und dem ehemaligen Ensemble-Modern-Trompeter Valentín Garvie fußte, nicht als erkenntnistheoretischer Diskurs geplant: Nach dem Vorbild der „Fakebooks“, in denen traditionelle Jazzer die Melodien und Harmonien für ihre Improvisationen skizzieren, hat der amerikanische Komponist Alvin Curran Texte, Bilder und Melodien aus seinem Leben festgehalten. Die Melodien waren teils selbst komponiert, teils, wie sein „Amazing Cage“, lose vom Broadway adaptiert. In jedem Falle jedoch explizit zur Verfügung gestellt, damit kreative Andere etwas draus machen: Sein Fakebook stehe „abenteuerlustigen Musikern, ob gebildet oder ungebildet, Klangkünstlern, Wissenschaftlern, Kompositions- und Improvisationslehrern, Amateuren, Avantgardisten im Endstadium, Bloggern, Straßenmusikern, Buchliebhabern oder jedem, der sich für meine Arbeit und die Entwicklung der Kunst-Musik in unserer Zeit interessiert, zur Verfügung; es soll genossen und benutzt werden“, schrieb der 1938 geborene Komponist dazu.

In der musikalisch von Valentín Garvie motivierten Realisierung nahm man zunächst wahr, dass Ensemble-Modern-Musiker auch groovend improvisieren können und Schauspieler durchtrainierte Menschen sind: Man staunte etwa über ein ausdauernd Trampolin springendes Wesen, das dem Abend seinen Puls gab, über einen Sprint auf High-Heels oder eine perfekt optimierte Seilspringtechnik. Der interdisziplinäre Ansatz der Hessischen Theaterakademie bewies sich im sängerischen Durchhalten von Dissonanzen in der Cluster-Mixtur einer choralähnlichen Melodie. Das „urdemokratische“ der Akademie, das Philipp Schulte in seiner Begrüßung hervorhob, zeigte sich auch in genderfluiden Kostümen: als Männer „Gelesene“ trugen oft Abendkleid oder Ballettkostüm über der Jogginghose.

Alvin Curran hat seinen musikalischen Vorlagen auch unverbindliche Spielregeln mitgegeben. Im späteren Verlauf der Aufführung erlebte man mittlerweile vertraut gewordene Weisen etwa in den Variationen „rückwärts“, in der die Musiker klangen wie ein gespieltes Tonband. Oder „Duett“, in dem die Erwartungshaltungen erfrischend irregeleitet wurden, wer wohl gerade mit wem zusammenwirkte. Oder „Tauschen“, in dem eine der Schauspielerinnen zeigte, dass sie auch Cello spielen kann, während Schlagzeuger David Haller sich wohl auch ein wenig absichtlich mit dem Springseil in seinem Tutu zu verheddern schien.

Insgesamt spiegelte der Abend Alvin Curran, der sein Künstlersein von je her emphatisch mit Anderssein und Rebellion verknüpft hat. Und zugleich einmal bekannte, leidenschaftlich gern zusammen mit seiner Frau vierhändig am Klavier Mozart zu spielen.

DORIS KÖSTERKE
12.6.2021